Megatrend Globalisierung
Was ist Globalisierung? – Eine Definition
Ob in Wirtschaft, Politik oder den Medien: Kaum ein Beitrag oder eine Diskussion über Handel, Finanzen, Digitalisierung oder Mobilität kommt ohne den Begriff Globalisierung aus. Aber was genau ist damit eigentlich gemeint?
Globalisierung beschreibt den Prozess einer weltweiten Verflechtung verschiedener Akteure, der in den vergangenen Jahrzehnten erheblich an Dynamik gewonnen hat. Immer mehr Menschen, Organisationen und Staaten sind miteinander vernetzt und interagieren. Grund dafür sind zum Teil revolutionäre Fortschritte in den Bereichen Netzwerktechnologie, Logistik und Mobilität. Waren die Menschen in früheren Zeiten fast ausschließlich von Personen und Institutionen auf lokaler und nationaler Ebene abhängig, führt die Globalisierung zu einer Interdependenz zwischen Staaten und Menschen auf der ganzen Welt. Ein Weltereignis wie die Corona-Pandemie hat uns diese Vernetzung und Abhängigkeit drastisch vor Augen geführt, sowohl was die Ausbreitung des Virus als auch die Entwicklung, Produktion und Verteilung von Impfstoffen betrifft.
Globalisierung verstehen: Der systemische Blick
Um die weitreichenden Folgen der Globalisierung zu analysieren, ist es sinnvoll, sie zugleich ganzheitlich und differenziert zu betrachten. Ein Modell dafür bietet ein systemtheoretischer Zugang, der mit 5 Subsystemen operiert: Politik, Gesellschaft, Ökonomie, Unternehmen sowie Physische Umwelt.
- Im politischen Subsystem sind die Staaten mit ihren Machtverhältnissen, Verfassungen, Freiheiten, Interessen, Bürokratien und Rechtssystemen die zentralen Akteure.
- Gesellschaft beinhaltet die soziale Struktur, die durch Aspekte wie Klassen- und Milieu-Unterschiede, Werte, Religiosität oder ethnische Vielfalt gestaltet wird.
- Das Subsystem Ökonomie wird vor allem von den verschiedenen ökonomischen Ordnungen geprägt. Sie bestimmen das Wachstum, die staatliche Preis- und Geldmengenpolitik, die Produktion von Waren und Dienstleistungen sowie den Zugang zu Ressourcen.
- Im Subsystem Unternehmen sind die Branchen und die dort tätigen Unternehmen die bestimmenden Einflussgrößen, die Kernfragen lauten: Wie verstehen die Unternehmen Management und Wettbewerb, welche Entscheidungen treffen sie, wie gestalten sie ihre Lieferketten?
- Die physische Umwelt steht als Subsystem für nicht-organische Faktoren wie Landmassen, Bodenschätze, Wasser oder die Atmosphäre, aber ebenso für nicht-menschliche Organismen wie Pflanzen und Tiere. Hierzu gehören auch technologische Aspekte, wie Grundlagenwissen und -forschung sowie Innovationen.
Ändert sich in einem dieser 5 Systeme mit Blick auf die Globalisierung auch nur ein Baustein, werden davon auch alle anderen Systeme beeinflusst. Ein Beispiel ist der Fund von Vorkommen seltener Erden im Norden Schwedens: Ein solches Ereignis, man spricht auch von einer Interaktion innerhalb des Systems physische Umwelt, wirkt sich augenblicklich auf die Systeme Unternehmen, Politik, Ökonomie und Gesellschaft aus.
Warum Globalisierung jede Organisation betrifft
Systeme beeinflussen sich durch Interaktionen gegenseitig, die Dynamik der Globalisierung ändert sich deshalb ständig. Es gibt Interaktionen, die Neues entstehen lassen – zum Beispiel globale Allianzen zum Klimaschutz – oder alte Verbindungen kappen. Manche Interaktionen sind formal und spezifisch, zum Beispiel in Form von Gesetzen. Andere haben einen informellen oder spontanen Charakter – wie es bei dem Tanker der Fall war, der im Suezkanal feststeckte und damit den weltweiten Warenverkehr für einige Tage stoppte.
Der große Vorteil des systemischen Blicks auf die Globalisierung ist es, Ursache und Wirkung von Ereignissen sichtbar zu machen. Um beim Beispiel des Tankers zu bleiben: Die unglückliche Querlage des Schiffs war die primäre Ursache dafür, dass beispielsweise deutsche Unternehmen wegen fehlender Materialien ihre Produktion pausieren mussten (Ökonomie), in den Baumärkten die Gartenmöbel „Made in China“ fehlten (Unternehmen) und sich an beiden Seiten des Suez-Kanals Hunderte Tanker stauten (Physische Umwelt). Andere Subsysteme beschäftigten sich schon bald damit, die Folgen solcher spontaner Ereignisse in Zukunft abzumildern: Interessenverbände suchten nach alternativen Handelsrouten (Politik), Ökonomen warnten davor, sich von sensiblen weltweiten Lieferketten abhängig zu machen (Ökonomie).
Neue Dimension im Prozess der Globalisierung
Die Dynamik, die sich aus den Interaktionen ergibt, kann in bestimmte Richtungen weisen. Sie kann den Gedanken einer „Welt als eins“ verstärken und eine Annäherung von Akteuren oder Ländern fördern, dann spricht man von Konvergenz. Sorgt die Dynamik dagegen dafür, dass sich die Nationen oder Regionen separieren, nennt man diesen Effekt Divergenz. Möglich ist es, dass die Konvergenz in einem Bereich Divergenzen in einem anderen auslösen kann. Erkennbar ist dies beim russischen Angriff in der Ukraine: Während sich Russland von den Staaten des Westens separiert hat und sich nun möglichen neuen Partnern wie China zuwendet, gewinnt das Militärbündnis der NATO bei den westlichen Staaten an Größe und Bedeutung. Gleichzeitig verhalten sich andere Mächte wie Indien oder Brasilien eher neutral.
Ereignisse wie die weltweite Erschütterung des Finanzsystems oder die Pandemie haben gezeigt, dass die Folgen krisenhafter Interaktionen gewaltig sein können. Staaten, Unternehmen und Gesellschaften haben gelernt, wie wichtig es ist, sich gegen unvermeidliche systemische Unsicherheiten der Globalisierung abzusichern. Beispiele für solche Maßnahmen sind die Strategie der deutschen Regierung, sich bei der Energielieferung stärker zu diversifizieren, oder der Ansatz von Städten, autark Energie zu gewinnen, Lebensmittel anzubauen und herzustellen. Solche Bestrebungen schwächen den Prozess der Globalisierung jedoch nicht, sondern erweitern ihn um die wichtige Dimension der Risikoabwägung.
Globalisierung – an einem Kipppunkt angelangt
In den 1990er-Jahren herrschte bei vielen Aufbruchstimmung, damals sollten sich die Prinzipien des Liberalismus in Form von Demokratie und freier Marktwirtschaft endgültig überall durchsetzen. Der Globalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft in Frieden und Freiheit stand scheinbar nichts mehr im Wege.
Schon im Jahr 2023 aber scheint wenig von der Euphorie geblieben zu sein. Einzelne und sich kumulierende Krisen und Probleme der letzten drei Jahrzehnte später haben viele Menschen das Gefühl, dass unsere Zukunft in den vergangenen Jahren keine bessere geworden ist. Die Globalisierung als Megatrend ist eng verwoben mit diesen Entwicklungen – als Auslöser, als Multiplikator und als Lösung. Es ist klar, dass die Geschichte nicht am Ende ist und sich auch nicht zurückdrehen lässt. Doch der Eindruck nimmt zu, dass sich die Globalisierung zwar nicht im Rückzug befindet, aber jedenfalls neu ausgestaltet werden muss.
Aktuelle Trends im Kontext des Megatrends Globalisierung
Wie alle der 12 Megatrends steht Globalisierung unter permanenter Beobachtung des Zukunftsinstituts, denn Trends sind keine statischen Phänomene, sie befinden sich in einer permanenten Evolutionsschleife. Die Ergebnisse der turnusgemäßen Überprüfung des Megatrends Globalisierung mit der Forschungsmethode des Zukunftsinstituts bestätigen eindeutig: Innerhalb des Megatrends Globalisierung hat sich in den letzten Jahren einiges getan. Diese Veränderungen und Neuerungen stehen u.a. im Fokus der aktuellen Megatrendstudie Globalisierung und sie werden auch Auswirkungen auf unsere bekannte Megatrend-Map haben, die in Bezug auf Globalisierung aktuell als „under construction“ angesehen werden muss.
So werden in absehbarer Zeit neu identifizierte Subtrends wie Erschöpftes Europa, Eco Propositions, Smart Innovations oder Debendability auf der Megatrend-Map aufscheinen.
Europas veränderte Rolle in einer globalen Wirtschaft
Beim Blick auf unsere Forschungsergebnisse zeigt sich für Europa ein Bild der Erschöpfung. Während Indien, China und Amerika wieder zum wirtschaftlichen Wachstum zurückgekehrt sind, scheinen Europa und noch mehr Deutschland zu stagnieren. Es sind nicht mehr die großen Zahlen des Wachstums, die Europas Zukunft prägen werden. Es gilt vielmehr, den Übergang von einer quantitativen zu einer qualitativen Globalisierung zu schaffen.
Die Ergebnisse unserer Untersuchung weisen darauf hin, dass sich Europa weiterhin sehr stark in der Abhängigkeit von den USA befindet. Aktuelle Sicherheits-Debatten unterstreichen diese Erkenntnisse. Dabei sind die Aussagen, die sich in der Studie verdichten, recht klar: Die USA gewinnen – Europa verliert im globalen Spiel. Der europäische Verbots- und Regulierungsreflex verhindert Innovation und Wachstum – auch in der Qualität. Einseitige Abhängigkeiten werden dadurch noch erhöht.
Diese Erkenntnisse aus unserem Research lesen sich nicht optimistisch. Gleichermaßen ist diese Erschöpfung durchaus normal. Über eine sehr lange Periode hat Europa die Weltgeschehnisse (mit)bestimmt. Diese Zeit endet nun. Globale Partnerschaften werden fluider. Europäische Länder oder Unternehmen sitzen nicht mehr zwangsläufig am Tisch, wenn die Zukunft diskutiert wird. Gleichermaßen entstehen weltweit neue freie Märkte, neue Partnerschaften ergeben sich, für Länder, wie auch für Unternehmen.
Geopolitischer Aufsteiger China
Im Verhältnis zu China zeichnet sich ein Abschied von der Wahrnehmung als Absatz-Schlaraffenland ab. Selbst wenn die vergangenen Dekaden von diesem Gedanken geprägt waren, gilt dies im Kontext der neuen, qualitativen Globalisierung nicht mehr. China handelt ambivalent, die Strategie des Landes ist mit europäischem Denken kaum zu fassen. Allein durch die Wucht seiner Größe bestimmt China zunehmend die Spielregeln – von Investitionen über rechtliche Rahmenbedingungen bis hin zu kulturellen Entwicklungen.
Kombiniert mit einer sehr undurchsichtigen Datenlage zu China wird die Beziehung immer mehr von diesem Riesen dominiert. Klar ist aber auch, dass sich ohne China keine echten Innovationen mit Blick auf CO2-Reduktion entwickeln lassen. Was sich hier also einstellt, ist ein neues, zweiseitiges Verhältnis. China einfach nur zu verteufeln und mit westlicher Moral in eine Ecke zu drängen – ist jedenfalls nicht die Lösung. Es geht vielmehr darum, Politics of Hope zu gestalten.
Die Einblicke in unseren Research lassen den Schluss zu, dass die Hebelkraft Chinas weiter zunehmen wird. Die Beziehungen, die nun nötig sind, um dieser Kraft etwas entgegenzusetzen, sollten pragmatischer Natur sein und letztlich individuelle Vertrauensbeziehungen ins Zentrum rücken.
Entwicklung vom Nearshoring zum Friendshoring
War in den vergangenen Jahren vor allem die Entwicklung vom Off- zum Nearshoring zu beobachten, so zählt in einer sich intensivierenden Globalisierung vor allem das Friendshoring. Dabei geht es für Länder und Unternehmen darum, Beziehungen zu gestalten, die auf Vertrauen, gemeinsamen Zielen sowie einer langfristigen Zusammenarbeit basieren – unabhängig von der geografischen Lage. „Gemeinsam“ ist hier der Schlüsselbegriff: Die Zeiten eindimensionaler, direktionaler Weisungen ist vorbei. Durch das Friendshoring können Staaten wie Unternehmen von den Stärken und Fachkenntnissen ihrer Partner profitieren und gleichzeitig Risiken minimieren oder Effizienzgewinne erzielen. Die zentrale Frage lautet also nicht, wo Partner zu finden sind, sondern wie tief das Vertrauen zu diesen Partnern ist.
Auf Grundlage des gegenseitigen Vertrauens bilden sich neue Netzwerke und Communities, neue Institutionen und Vertrauenspartnerschaften. Sie finden ihren Ursprung nicht mehr in der Nachkriegszeit des vergangenen Jahrhunderts, sondern sind deutlich aktueller und damit zeitgemäßer. Für Entscheider:innen stellt sich damit die Frage: Wo sind meine Freunde, mit denen ich den globalen Herausforderungen meines Unternehmens begegnen kann? Allein die Frage, was in Taiwan passiert, kann beispielsweise über die Zukunft der Technologie-Fähigkeit des eigenen Unternehmens entscheiden! Zukünftige Geschäftsbeziehungen basieren damit nicht nur auf klassischen Supply-Chains, sondern auf Trust-Networks. Diese sind elementarer Teil einer gelungenen qualitativen Globalisierung.
Wie Globalisierung nachhaltiger gestaltet werden kann
Abhängigkeiten, Interaktionen und Vernetzung auf der einen Seite, Gefühle, Meinungen und Wünsche auf der anderen Seite bestimmen, was in der Welt als richtig und was als falsch wahrgenommen wird. Dabei sind die Vorstellungen abhängig vom räumlichen Kontext. In einem Entwicklungsland sieht man den Begriff Wohlstand anders als in einer westlichen Industrienation. Aus diesem Grund können die großen Herausforderungen auch nicht mit einer singulären Perspektive gelöst werden. Menschen möchten bei allen Herausforderungen, die sie umgeben, ihre eigene Lebenssituation nicht verschlechtern. Dennoch bleiben die Fragen der Zeit akut: Klimawandel und Verlust der Biodiversität, Technologie und Befähigung, aber auch Themen wie Bildung und Gesundheit. Zur Lösung beitragen können insbesondere zwei Trends: Eco Proposition und Smart Innovations.
Die Eco Proposition betrachtet die ganze Bandbreite der Angebote für Kund:innen: den Kundenwert, den ökologischen Wert sowie den unternehmerischen Wert. Alle drei Bereiche sind essenziell, um zukunftsfähige Angebote zu entwickeln. Innovationen im Bereich von Green Finance, aber auch neue ökonomische Modelle sind hierbei ebenso relevant wie die eigene Innovationskraft. Smart Innovations wiederum fokussieren explizit auf die Nutzung von Daten. Hierbei geht es nicht nur um das Ausspielen von smart wirkenden Dashboards, sondern um die Kopplung von Umfeldeinfluss und Technologie. Der Research zeigt: Smarte Systeme reagieren automatisch auf ökologische und soziale Veränderungen. Die Implementierung und Nutzung von digitalen Plattformen, Systemen mit Künstlicher Intelligenz und datengetriebenen Lösungen ist hierbei die Grundvoraussetzung. Beide Trends – Eco Proposition und Smart Innovations – zielen auf die Innovationskraft ab
Fragen der Regulierung werden immer an verschiedene nationale oder Bündnisgrenzen stoßen. Jedoch werden sich diejenigen Technologien global durchsetzen, die kundenorientierte, ökologische und unternehmerische Werte erzeugen und in smart vernetzten Systemen agieren.
Die Zukunft der Globalisierung
Essenziell für die Dynamik der Entwicklung des Megatrends Globalisierung ist das Game of Nations. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, welche Vision eine Nation für sich formuliert. Sollen die Menschen die Zukunft innovativ und mutig gestalten können, oder soll die Zukunft bewahrt, beschützt und damit verwaltet werden?
Diesen Fragen müssen wir uns vor allem in Europa stellen. Die Potenziale liegen auf dem Tisch, die Expertisen sind vorhanden. Nur die Strukturen beugen sich noch nicht der Idee, Europa aus der Erschöpfung zu holen. Die Zukunft kann gelingen – vor allem dann, wenn die im Research erkannten Trends ernst genommen werden und wir über sie ins Tun kommen. Die Zukunft hat den inspirativen Raum der Möglichkeiten verlassen und haftet sich ans konkrete Handeln. Packen wir es an!
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