Free Creativity: Die treibende Kraft in der Krise
Krisen setzen kreative Energie frei
Oft heißt es, ein gewisser Druck und Stress sei notwendig, damit Menschen sich aufraffen, kreativ zu werden; in völliger Zweckfreiheit sei der Mensch hingegen eher faul und unkreativ. Richtig ist: Tatsächlich setzen Krisen ein sehr hohes Maß an Kreativität frei. Das Bonmot „Not macht erfinderisch“ erweist sich auch in Folge der Corona-Krise als zutreffend: Neue digitale Geschäftsmodelle entstehen in kürzester Zeit, neue Konzepte gemeinsamen Arbeitens werden von heute auf morgen gelebt, Restaurants stellen auf Lieferservices um, regionale Lieferketten werden etabliert, und vieles mehr.
Doch es lohnt sich, genau hinzuschauen, um zu verstehen, was kreative Energie in Krisensituationen tatsächlich über die Grundbedingungen von Kreativität lehrt: Nicht Druck und Stress sind es, die Kreativität freisetzen – im Gegenteil wirken Stress, Angst und Unsicherheit eigentlich eher hemmend auf kreatives Denken. Zu dem künstlichen Druck, der also vor der Krise innerhalb von Unternehmensstrukturen erzeugt wurde, um kreative Ideen aus den Menschen herauszupressen und mit dem Innovationshype mithalten zu können, sollten Unternehmen nicht zurückkehren. Denn Kreativität ist keine steuerbare Ressource.
Neue Umstände, neue Chancen
In Krisensituationen treten bekannte Regeln plötzliche außer Kraft, bestehende Systeme funktionieren nicht mehr. Genau das ist es, was kreative Energie freisetzt: Von jetzt auf gleich ist die Zukunft wieder völlig offen. Es bilden sich neue Netzwerke und neue Rollen, Altes wird infrage gestellt. Im rasenden Stillstand der Krise ergeben sich Möglichkeiten in kürzester Zeit, für die es sonst Jahre gebraucht hätte. Die Dekonstruktion der Gegenwart – so schmerzlich diese auch ist – erzeugt den Möglichkeitsraum für eine neue Zukunft.
In der Corona-Krise ist es gerade deshalb so essenziell wichtig, nicht Lösungen erzwingen zu wollen, sondern alle Sinne zu öffnen, um die kreativen Ideen wahrzunehmen und aufzunehmen, die in dieser Zeit ganz von selbst entstehen – nämlich aus einer zukunftsoptimistischen Haltung heraus: Kreative Energie wird dann frei, wenn die Welt auch wieder völlig anders gedacht werden darf. Wenn sie in ihrer Freiheit nicht durch Regeln beschnitten wird. Kreativität ist der intendierte Regelbruch – und ist daher auch nicht mit Regeln herstellbar oder planbar.
Corona und Kreativität: Now or never
Für Unternehmen gilt es deshalb in Krisenzeiten vor allem, in den offenen Lernmodus umzuschalten. Improvisation, Rollenerprobungen und das Loslassen alter Routinen sind an der Tagesordnung. Wenn etablierte Regeln in der Krise plötzlich nicht mehr funktionieren, ist es Zeit, sich zu öffnen für neue, womöglich erst einmal abgedreht erscheinende Ideen – aber auch die Augen zu öffnen für die kreativen Ideen, die vielleicht schon längst in der Welt existieren. Jede visionäre komplexe Vorstellung von Welt und Wirtschaft steht nun in der Pole Position. Dort, wo Kreative ihre Ideen einer anderen möglichen Welt bereits umgesetzt haben, lassen sich jetzt viele gute Entwürfe beobachten. Die Wirtschaft nach Corona entwickelt neue Netzwerke in einer nie geahnten Geschwindigkeit – und plötzlich wird möglich, was zuvor kaum jemand für möglich hielt. Dabei geht es weniger darum, wie groß oder finanzkräftig ein Unternehmen ist. Vielmehr ist nun erst einmal Einfallsreichtum gefragt, der sich nicht nur auf wirtschaftlichen Gewinn fokussiert, sondern das Wohl des großen Ganzen im Sinn hat.
Rethinking Creativity: Kreativität als gesellschaftliche Kraft
Kreativität gilt in vielen Unternehmen als notwendige Bedingung für Innovation, als gefragtester Skill bei Bewerbern, als Muss in der Unternehmenskultur. Doch das ist nicht die eigentliche Bedeutung von Kreativität: Was durch menschliche Kreativität entstehen kann, ist weit mehr als eine kurzlebige Innovation, die für drei Monate den Umsatz von Unternehmen sichert und danach wieder in der Versenkung verschwindet.
Die menschliche Kreativität ist die Triebfeder kultureller und damit gesellschaftlicher Entwicklung. Die gesamte Evolution und Kulturgeschichte des Menschen kann als kreativer Prozess beschrieben werden. Denn ohne Erfindungen, Entdeckungen, künstlerische „Kreativität ringt der Wirklichkeit eine weitere Facette ab“ und gesellschaftlich-soziale Innovationen wäre der Mensch nicht das, was er heute ist. Er ist also ein immer schon zukunftsorientiertes Wesen (vgl. Krampen 2019). Kreativität funktioniert wie das Grundprinzip, das Erfolgsgeheimnis der Evolution, und das lautet, wie es der Psychologe Joachim Funke zusammenfasst: „Schaffe zufällige Mutationen und schaue, was sich bewährt“ (Bouchannafa 2018). Sie ist also notwendigerweise mit dem Zufall verheiratet und ihrem Wesen nach durch und durch anarchisch.
Was menschliche Kreativität wirklich vermag: Wirklichkeit zu dekonstruieren und ihr eine weitere mögliche Facette abzuringen – ein „So könnte es auch sein“, gerade in Krisenzeiten. Kreativität ist also nicht einfach eine von vielen Methoden, Neues in die Welt zu bringen. Sondern ein Modus der Realitätsverarbeitung, der immer die Tür offen lässt für neue Perspektiven und Uminterpretationen von dem, was bisher als selbstverständlich galt. Vor allem die Erkenntnis während der Corona-Krise, dass einzelne Unternehmen sowie auch die gesamte Wirtschaft verwundbar sind, führt zu einem neuen Denken: weg von Effizienz und Innovationszwang, hin zu Resilienz und Ergebnisoffenheit. Die Fähigkeit, sich adaptiv auf wandelnde Umweltbedingungen einstellen zu können, wird zur primären Managementprämisse.
Free Creativity!
Für Unternehmen bedeutet das, sich noch einmal von Grund auf Gedanken zu machen, wo sie Kreativität mit allen Bedingungen an Freiheit ihren Raum geben wollen, wo es Sinn macht – und wo nicht. Wert, Sinn und Wirkung hat Kreativität in Unternehmen vor allem dort, wo es um neue Visionen des Wirtschaftens geht, um alternative Geschäftsmodelle, die frei gedacht sind, von Selbstzweck und ökonomischen Zwängen losgelöst. Wo es um System Change, Transformationen, Resilienz geht. Aktuell, in Zeiten der Postwachstumsdiskurse – und des erzwungenen Stillstands der Wirtschaft infolge der Pandemie –, besteht für Unternehmen die Chance, sich aus eigenen Strukturen und Abhängigkeiten zu befreien und einen neuen Handlungsspielraum zu finden. Hier kann man Kreativität ihren Raum in der Wirtschaft geben – aber man darf nicht mit ihr kalkulieren. Dafür hilft am besten, sie loszulassen und von unmittelbaren ökonomischen Zwängen zu befreien. Wo sich Kreativität frei entfalten kann, entstehen sinnhafte Skizzen möglicher Zukünfte – und entwickelt sich die Gesellschaft und ihre Wirtschaft weiter.
Literatur:
Bouchannafa, Johanna (2018): Wie entsteht Kreativität? Interview mit Joachim Funke. In: jetzt.de, 11.05.2018
Dokumentation
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