Wie um die Megatrends gesellschaftlicher Wandel entsteht
Wie kommt es zu gesellschaftlichem Wandel und Umbrüchen? Dieser Frage geht die Trend- und Zukunftsforschung nach, wenn sie aus Megatrends Aussagen über die Zukunft ableitet. Dabei geht es nicht darum, punktgenaue Vorhersagen zu treffen, sondern Zusammenhänge und Entwicklungslinien zu beschreiben – sei es für abstrakte Szenarien oder Visionsprozesse, konkrete Strategien oder Masterpläne, Innovationsvorhaben, Produktentwicklung oder Investitionsentscheidungen.
Die menschliche Kultur zeigt über die Jahrhunderte hinweg eine kontinuierliche Tendenz zu höherer Komplexität durch Wandel. Dieser Wandel vollzieht sich auf vielen Ebenen und Stufen, und die meisten Veränderungsprozesse haben dabei wiederkehrenden Charakter. Allerdings sind die Zyklen nicht einfach nur eine Wiederholung, sondern finden immer auf einer neuen, höheren Ebene statt.
Auch Megatrends sind daher nicht als lineares „Immer mehr“ zu verstehen, sondern als dynamische Prozesse, die in einem interaktiven Netzwerk von Wirkungen systemische Umformungen in Gesellschaft, Ökonomie, Politik und Kultur erzeugen – inklusive Strudel, Turbulenzen und Rekursionen. Während kleine, eher zeitgeistige Trends und Moden relativ schnell an eine Sättigungsgrenze kommen, bilden die langlebigen Megatrends in ihrem Verlauf dynamische Gegentrends aus, die mitunter sogar mächtiger werden können als der Ursprungstrend selbst.
Trend-Gegentrend-Dialektik als Schlüssel zur Zukunft
In dieser Trend-Gegentrend-Dialektik liegt der Schlüssel zur Zukunft – und der „Sinn“ von Krisen. Wandel und Fortschritt erwachsen aus der Integration von Paradoxien durch neue Synthesen, aus der Aufhebung von Widersprüchen, hin zu einer höheren Komplexitätsebene. Auch die Corona-Pandemie hat der Dynamik dieser „rekombinatorischen“ Trendsynthesen einen starken Schub verliehen.
Das zeigt etwa die jüngere Entwicklung des Megatrends Globalisierung: Die Corona-Pandemie hat den Trend zur De-Globalisierung und zum Neo-Nationalismus spontan verstärkt – Grenzen wurden geschlossen, Wertschöpfungsketten disruptiert. Darin kündigt sich ein Ende jener Turboglobalisierung an, die die vergangenen 30 Jahre dominierte. Der Trend zur Glokalisierung beschreibt, wie das Verhältnis zwischen lokal und global neu austariert wird. Die Globalisierung wird dabei nicht verschwinden, aber sie wird sich moderieren – durch eine Zunahme lokaler, nationaler und kontinentaler Autonomie, durch die Rückholung vieler Wertschöpfungsketten in regionale Kontexte und durch eine neue Balance zwischen Weltoffenheit und Heimatverwurzelung.
Auf ähnliche Weise treibt die Corona-Krise im Kontext des Megatrends Konnektivität eine neue, reflektiertere Phase der Digitalisierung voran. Die Pandemie hat die aktive Nutzung des Netzes massiv erhöht und zugleich „veralltäglicht“: Mehr denn je leben wir seit Corona in einer real-digitalen Welt, in der die strikte Trennung zwischen „analog“ und „virtuell“ vollends obsolet wird. Der digitale Über-Hype verabschiedet sich, die mystischen Zeiten des Silicon Valley sind vorbei, und Internetmonopolisten werden zunehmend zu massiven (Selbst-)Veränderungen gezwungen. Der Trend der Real-Digitalität beschreibt diese Allokation von digitaler Technik im Kontext menschlicher Bedürfnisse und Möglichkeiten.
Auch der große Wertewandel, der sich rund um den Megatrend Individualisierung vollzieht, ist durch die Corona-Krise enorm vorangetrieben worden. An die Stelle des alten Ego-Individualismus tritt ein neues, hybrides Verständnis von Vergemeinschaftung, eine zukunftsweisende Wir-Kultur oder Co-Individualisierung. Definierte sich Individualität traditionell über Abgrenzung, entfaltet sich die neue, gewissermaßen „post-individuelle“ Individualisierung innerhalb von selbst gewählten (Werte-)Gemeinschaften. Die alten Insignien des Super-Individualismus weichen zunehmend dem Wunsch nach Verbundenheit, Zugehörigkeit und sozialer Resonanz. Dabei wächst nicht nur das Bewusstsein für Beziehungen zu anderen Menschen, sondern auch zur Natur und zu den Dingen, die uns umgeben.
Über Retro-Trends zur Rekursion
Wie unter einem Brennglas hat die Corona-Krise die Trend-Gegentrend-Dynamiken verschärft und die Kraft der daraus hervorgehenden Rekombinationen gestärkt. Damit wird deutlich, dass und wie Megatrends in ihrer Wirkung komplexitätsgenerierende Dynamiken erzeugen, die Gegenbewegungen fast zwangsläufig beinhalten – und integrieren. Rekursive Entwicklungen, die dem Megatrend auf den ersten Blick zu widersprechen scheinen, erweisen sich bei näherer Betrachtung oft als „Retro-Trends“, die als Aufwärtsverschiebung in einer höheren Ordnung wieder in den Megatrend einmünden.
Ein Beispiel dafür ist der Trend zum Detoxing innerhalb des Megatrends Gesundheit. Als Gegentrend zur voranschreitenden Technologisierung und zum generellen Überangebot von Gütern und Dienstleistungen steht hier die Philosophie „Weniger ist mehr“ im Fokus. Der Verzicht auf überflüssige, ungünstige oder sogar schädliche Stoffe, Konsumgüter, Medieninhalte oder Gewohnheiten soll Körper und/oder Geist entlasten und das mentale und physische Wohlbefinden steigern. Der Trend ist eng verbunden mit der Sehnsucht nach mehr Achtsamkeit, er entspringt einer wachsenden Überforderung und Unsicherheit angesichts zunehmender Komplexität und Optionenvielfalt in Wohlstandsgesellschaften.
Trend und Gegentrend: Zwei Seiten einer Medaille
Deutlich zeigt sich die Trend-Gegentrend-Dynamik auch in Trends, die den globalen Speiseplan verwandeln, etwa durch ökologische, ethische und gesundheitliche Aspekte. Neben dem Bio-Boom und der verstärkten Bewegung hin zu vegetarischer oder veganer Ernährung spielen neue Plant-based-Produkte eine immer wichtigere Rolle. Die neuen technologischen Möglichkeiten der Agrikultur werfen dabei zugleich neue Zukunftsfragen auf: Was passiert mit bekannten Kategorien wie „aus biologischer Landwirtschaft“ oder „vegetarisch“, wenn Gemüse ohne Erde wachsen kann und Fleisch und Fisch im Labor hergestellt werden? Wird es Bio-Hydroponic geben und Öko-Fleisch aus der Petrischale? Trends wie Plant-based sorgen dabei auch für eine weitere Abrüstung im ideologischen Kampf um „richtiges“ Essen, der lange Zeit zwischen Vegetariern und Fleischliebhaberinnen geführt wurde.
Neue Angebote schaffen neue Optionen jenseits der bekannten Kategorien und lassen außerdem das Qualitätsbewusstsein der Konsumierenden wachsen. Auf diese Weise kann die Dialektik von Trend und Gegentrend verdeutlichen: Was auf den ersten Blick paradox wirkt und scheinbar widersprüchliche Strömungen kennzeichnet, sind tatsächlich zwei Seiten einer Medaille.