Am Ende seines Lebens hat der Deutsche 46 Schweine und fast 1.000 Hühner aufgegessen – von anderem Getier ganz abgesehen. Das klingt roh und barbarisch. Und tatsächlich: Essen ist ein absolutes Grundbedürfnis, zu finden auf der ersten Stufe der berühmten Maslow’schen Bedürfnispyramide. Die Trends rund um die Nahrung zeigen aber auch, wie komplex Kultur, Themen und Märkte mittlerweile funktionieren. Denn kaum etwas ist zugleich so grundlegend und problematisch wie das Essen: Immer mehr Menschen werden real oder gefühlt krank davon, haben Angst davor, essen zu wenig oder zu viel, glauben an die Verschwörung der Industrie, sie zu vergiften. Das Essen verliert seine Selbstverständlichkeit.
Wie also wird sich unser Essverhalten in den kommenden Jahren verändern? Was werden die Menschen essen, was werden sie weglassen, was werden sie vom Essen erwarten, was über das bloße Sattwerden hinausgeht? Und wie wird das die dazugehörigen Branchen verändern?
Zentraler Treiber der Essentrends ist der Megatrend Individualisierung. Er erzeugt einen überkomplizierten, hyperfragmentierten Food-Markt und betrifft darüber Bereiche von der Gastronomie über den Tourismus bis zur Sport-, Bekleidungs- und Gesundheitsindustrie.
Individualität bedeutet die Freiheit zur Wahl. Selbstbestimmt zu entscheiden, wie und wo man lebt, welchen Beruf man ergreift, welche Form der Sexualität praktiziert wird und natürlich auch was, wann, wie und wo gegessen wird. Individualisierung ist der Prozess, den Freiheitsraum und die Möglichkeiten für den Einzelnen auszuweiten. Wenn „Sinn zunehmend zur Privatsache wird“, wie es der Medienphilosoph Norbert Bolz ausdrückt, verändert das somit auch unser Verhältnis zum Essen.
Nahrung wird zunehmend zum Instrument auf der Suche nach dem Selbst, zum Tool der Selbstverwirklichung, der Selbsterfahrung und der Selbstdarstellung, ein hochemotionales allgegenwärtiges Thema – selbst für die, die kaum mehr wirklich essen. Essen wird als Mittel zur Selbstbeschränkung, der Persönlichkeitserweiterung, der Communitybildung, der Weltverbesserung oder der Provokation eingesetzt. Lebensmittel, aber auch selbst zusammengestellte Ernährungsphilosophien werden immer mehr zur Ausdrucksform der Persönlichkeit. Was man isst, sagt künftig genauso viel über den Menschen aus wie das, was man nicht – mehr – isst.
Ein Schlagwort wird zum Trend – und viele folgen ihm, auch ohne es zu wissen: Flexitarier. Die Mehrheit der Deutschen (52 %) isst laut einer Forsa-Studie an drei oder mehr Tagen pro Woche kein Fleisch. In Deutschland und Österreich hat sich der Fleischkonsum nach jahrzehntelangem Anstieg – wenn auch auf immer noch hohem Niveau – stabilisiert. In den USA geht er nach den jüngsten Statistiken des U.S. Department of Agriculture sogar seit drei Jahren deutlich zurück. Das mag auch ökonomische Gründe haben, die kulturellen sind aber deutlicher. Viele Menschen haben erkannt, dass sie sich in Zukunft anders, das heißt nachhaltiger, ökologischer, respektvoller und gesünder ernähren müssen. Sie suchen ein persönliches Gleichgewicht zwischen Verantwortung für die eigene Gesundheit, Tierliebe und dem Appetit auf Fleisch.
Die demografische Entwicklung mit den Megatrends Gesundheit, Female Shift und Neo-Ökologie sind die treibenden Kräfte, die den Wandel zu einem neuen Esstyp voranbringen. Damit ermöglicht der Flexitarier-Trend auch eine Abrüstung im ideologischen Kampf um „richtiges“ Essen, der sich zwischen Vegetariern und Immer-Fleischessern in den letzten Jahren hochgeschaukelt hatte. Denn für den „fleischessenden Vegetarier“ bedeutet seltener Fleisch zu essen keinen Verzicht. Im Gegenteil: Als „sehr maßvoller, auf Tierschutz bedachter und sehr qualitätsbewusster Fleischesser“ (so die Definition des Branchendienstes aid) verbindet er Genuss mit Welt- und Selbstverantwortung. Auf diese Weise kann Fleischverzehr wieder zu etwas Besonderem werden, das man mit Genuss statt schlechtem Gewissen zelebriert.
Das US-Marktforschungsinstitut Packaged Facts erklärt in seinem aktuellen Culinary Trend Mapping Report vor allem College-Studenten zu den Trendprotagonisten, die dieses Essverhalten auch als Erwachsene fortführen werden. In der Gastronomie kommt man diesem neuen Esstypus mehr und mehr entgegen. Lebensmittel industrie und Handel setzen jedoch erst vereinzelt auf diesen Trend. Die Compass Group, das weltweit größte Cateringunternehmen, startete im Jahr 2010 eine „Be a Flexitarian“-Initiative in Amerika. In Deutschland und Österreich ist es beispielsweise der Bio-Anbieter Denn’s, der auf seiner Website mit „5 guten Gründen, denn’s Flexitarier zu werden“ wirbt.
1. Fleisch wird immer mehr zum Problemthema: Skandale und Nachhaltigkeitsaspekte steigern die Zahl der Flexitarier.
2. Alternativen zum herkömmlichen Fleischgericht öffnen neue Wege in Gastronomie, Handel und Lebensmittelindustrie.
3. Teilzeitvegetarier machen aus dem Hart-Vegetarismus einen Markt mit ähnlichen Dimensionen wie „bio“.
Das „Restaurant der Zukunft“ steht in der Mensa der niederländischen Universität Wageningen. Dort werden im praktischen Alltag der Studenten laufend verschiedene Ess-Techniken untersucht: Wie kauen wir? Wann schlucken wir? Und was macht das mit dem
Geschmackserlebnis? Prof. van der Bilt, Leiter der Untersuchung, ist überzeugt: Unsere „oral processing habits“ sind einzigartig wie unser Fingerabdruck. Niedere“ Nahsinne wie Riechen und Schmecken werden wichtiger. Was wir schmecken, entscheidet sich ganz individuell in unserem Mundraum. Die Erkenntnis, dass jeder alle Dinge anders schmeckt, noch dazu abhängig von welcher Situation, wurde maßgeblich vorangetrieben durch die Genussforschung, angefangen bei Klassikern wie Wein oder Spirituosen. Nun erreicht sie die Branche im ganz großen Stil und eröffnet unzählige neue Felder.
Geschmack wird zur Orientierung im Lebensmittelüberfluss bei zunehmender Individualisierung immer wichtiger. Das Sehen, ehemals „höchster“ und nach wie vor mächtigster Sinn, bekommt Konkurrenz. „Niedere“ Nahsinne wie Riechen und Schmecken werden, gestützt durch Forschung und Wissenschaft, wichtiger. Dies geht einher mit der Verfeinerung und Weiterentwicklung einer Genusssprache, die uns hilft, sensorische Eindrücke besser zu verbalisieren und ins Bewusstsein zu holen. Erst damit gewinnt der individuelle Geschmack Macht über die Gewohnheit und kann somit unsere Konsumentscheidungen gezielt beeinflussen und verändern.
Am Beispiel der Schokolade lässt sich die neue Macht des Geschmacks erläutern: 1850 kommt die erste Schokolade in festem Zustand auf den Markt und erobert in den nächsten Jahrzehnten als Milchschokolade Herz und Gaumen der Konsumenten. Im Diskurs um gesunde Ernährung geriet sie in Misskredit: schmeckt gut, ist aber ungesund. 140 Jahre später kommt es zur Rückbesinnung auf das geschmacksgebende Ausgangsprodukt: die Kakaobohne. Nach und nach wurden alle übrigen Zutaten wie Zucker, Milchpulver, Nüsse etc. reduziert oder ganz weggelassen. In einem zweiten Schritt wurde die Vielfalt an verschiedenen Kakaobohnenarten und deren Herkunft thematisiert. Und Hand in Hand damit wurde der Fokus gezielt auf den Gehalt gesundheitsfördernder Inhaltsstoffe (Flavonoide und Antioxidantien) gelenkt sowie auf die Versprachlichung der Geschmackseindrücke, die das bewusste Erschmecken erleichtert und fördert. Und siehe da: Eine solche Schokolade wird als „Sensual Food“ wahrgenommen, dessen bewusste Verkostung als vielfältiges sinnliches Erlebnis erfahren wird.
1. Schmecken wird über Qualität stärker thematisiert. Hersteller brauchen hierzu neue Beschreibungskriterien.
2. Genuss als modernes Essprinzip eröffnet Potenziale für fast alle Lebensmittel, muss künftig aber auch überprüfbar und begründet sein.
3. Lernen lässt sich von Vorreitern wie Wein, Kaffee und Schokolade.
Märkte sind in unserer Überflussgesellschaft endgültig zum Komplexitätsproblem geworden. Es gibt alles – und von allem zu viel. Der Stress steigt. Noch mehr Wahlmöglichkeiten schaffen nicht mehr Konsum, sondern erzeugen Desorientierung und Verdruss. Dabei sucht der Konsument ja „einfach nur“ nach dem Produkt, das genau zu ihm passt, ihm schmeckt, moralisch vertretbar ist und ihn gesund erhält, wenn nicht macht. Enorme Herausforderungen für die Märkte von morgen.
Beispiel gesundes Essen: Konsumenten verstehen Gesundheit immer weniger als Schicksal, sondern übernehmen Eigenverantwortung dafür. Für die Produzenten heißt das nicht zwingend, weniger anzubieten, sondern bedürfnisgerechter. Was Kunden brauchen, ist ein Gesundheitskurator – jemand, der ihren ernährungsphysiologischen Bedarf kennt, auf Portionsgröße herunterrechnet und das jeweilige Erreichen der empfohlenen Tageszufuhr bestimmter Nährstoffe (Guideline Daily Amounts – GDA) in Prozenten festhält. Jemanden, der weiß, wer sie sind, was sie brauchen und in welche Richtung sie sich verändern wollen.
Das Online-Shoppingportal Life:Curated macht das „kuratierte Leben“ zum Geschäftsmodell. Seiten mit Kochrezepten für „Curated Food“ entstehen. Das konsequenteste Curating-Konzept für Food bietet das Restaurant LYFE – Love your food everyday von Mike Roberts, Ex-Geschäftsführer von McDonald’s, und
Art Smith, Ex-Chefkoch von Oprah Winfrey. Zu den zwei Restaurants in Kalifornien sind weitere 250 geplant. Das Fast-Casual-Restaurantkonzept setzt konsequent auf Gesundheit, Nachhaltigkeit und regionale Produkte. Es verzichtet auf Butter, Fruktose und Herausgebackenes. Die Kalorienanzahl pro Gericht ist auf maximal 600 festgelegt. Listen und Kriterien für den Einkauf sind derart lang, dass für europäische Verhältnisse das Motto “Eat good, feel good, do good“ vielleicht etwas zu streng ausgelegt scheint. Leichter und humorvoller serviert Whole Foods Market Inc., die weltweit größte Bio-Supermarktkette, ihr Healthy-Eating-Konzeptin den USA und Großbritannien. Jederzeit kann man bei Bedarf tiefer einsteigen – Stichwort „learn more“. Dies funktioniert inzwischen in mehr als 300 Filialen.
1. Vorauswahl wird zur zentralen Fähigkeit des erfolgreichen Lebensmittelhandels.
2. Fülle wird zur Gefahr – Konzentration des Angebots auf die richtigen Produkte erzeugt Vertrauen beim Kunden.
3. Food-Kuratoren werden zu Vorreitern eines neuen Paradigmas in der Lebensmittelbranche. Sie bestimmen die künftigen Esswelten maßgeblich mit.
In Zukunft reicht es für anspruchsvolle Gastronomie nicht mehr, einfach die Emotionen der Menschen zu reizen, sind die doch großteils schon hoffnungslos überreizt. Es geht um Größeres. Darum, über sinnliche Verführung Sinn zu manifestieren, Zusammenhänge klarzumachen, Geschichte zu erzählen. Eine enorme Aufgabe, denn das bedeutet, die eigentliche Basis eines Gerichts, einer Küchenphilosophie, eines Restaurants, eines Hotels sichtbar und spürbar zu machen und ihre tiefere Bedeutung zu vermitteln. Wer heute als Küchenchef der Zukunft plant, muss lernen, sich selbst als Vorhaben, als Unternehmen, als gestaltende Kraft zu inszenieren. Verkürzt: Die Herkunft der Produkte, ihre Qualität, Zubereitung und Inszenierung müssen die Seele des Kochs und des Unternehmens offenbaren. Und den Menschen ehrlich entgegentreten. Denn ein Grundbedürfnis der Gäste von morgen ist besonders beim Essen echtes Verstehen und intuitives Vertrauen – ohne sich durch Zertifikate und Beschreibungen wühlen zu müssen.
Das Erlebnis wird zunehmend als umfassend verstanden, von den Konsumenten, aber auch von den Köchen: „Auch der Duft muss zum Raum passen! Er ist Teil der Ausstattung wie Lampen, Blumen oder Möbel.“ In seinem Buch „See What I’m Saying“ nennt der amerikanische Psychologe Lawrence D. Rosenblum das den „Cross-Sensory-Effekt“. Es geht um eine bewusste Abstimmung aller in einem Raum befindlichen Komponenten. Dieses Arrangement soll alle fünf Sinne gleichermaßen berühren und zu einem überzeugenden Gesamteindruck aller Sinneswahrnehmungen führen. Der Cross-Sensory-Effekt beschreibt Konzepte, die ganzheitlich gedacht werden. Alle Details werden so orchestriert, dass sie als sinnliche Wahrnehmung des Gastes in dessen Bewusstsein oder Unterbewusstsein für eine bestimmte Stimmung sorgen. Denn es sind ausschließlich diese Cross-Sensory-Effekte, die für Erinnerung sorgen. Ereignisse oder Momente, die nicht mehrere Sinne aktivieren und Emotionen hervorrufen, erlangen nach neuesten Forschungen niemals den Zutritt zu unserem Langzeitgedächtnis.
Mit dem Wandel des Verständnisses von Essen und Kochen nimmt auch das Menü beziehungsweise seine Präsentation auf dem Teller eine neue, umfangreichere Rolle ein. Durch die gekonnte und meisterliche Inszenierung eines Gerichts werden intensive Verknüpfungen zwischen dem Ausgangsprodukt, dem Koch und dem Gast hergestellt. Küchenchefs nutzen das Design, um die Geschichte hinter dem Produkt und der Zubereitung zu erläutern. Die Inszenierung auf dem Teller ist bei den innovativen Chefs schon lange keine austauschbare Aufhübschung mehr. Wer Design als bloßen Schmuck versteht, katapultiert sich selbst ins letzte Jahrhundert. Es geht darum, Design als intuitiv verständliche Sprache zu verstehen und in der Kommunikation mit dem Gast gezielt zu verwenden.
1. Küchenchefs sind die Supermodels der 2010er-Jahre. Sie weisen den Weg zu verantwortungsvollem Umgang mit Körper, Nahrungsmitteln und Umwelt.
2. Holistische Konzepte für alle Sinne werden die Top-Gastronomie der kommenden Jahre prägen.
3. Food-Design wird als Faktor immer größere Bedeutung erlangen.
Getrieben von den Megatrends Individualisierung und Neo-Ökologie sind in den letzten Jahren viele Interpretationen sozialverträglicher und umweltbewusster Lebensstile entstanden. Die Ernährung ist dabei ein wesentliches Puzzlestück des nachhaltigen Lebensstils. „Save Food“ ist die Devise: Der sorgsame Umgang mit Nahrung, die Vermeidung von Abfällen. Dies ist im Alltag oft nicht leicht – für viele Konsumenten ist es schon Chuzpe, nicht alles, was gerade das „Mindesthaltbarkeitsdatum“ überschritten hat, sofort wegzuwerfen. Unsere Lebensgestaltung ist paradox: Einerseits gilt es, weniger Ressourcen zu verbrauchen und den ökologischen Fußabdruck zu verringern. Auf der anderen Seite stehen der Wunsch nach Sicherheit und eine Wirtschaft, die Konsum über alles stellt. Dies zu lösen wird für die Lebensmittelbranche zur zentralen Herausforderung.
Dass Wissen nicht sofort Handlung folgt, ist lange erlernten Einkaufsmustern geschuldet. Muster des „guten Einkaufs“ sind längst nicht so etabliert wie die Suche nach dem besten Preis. Eine Chance für Handel und Hersteller! Für die kommenden Jahre werden sich neue Verhaltensregeln auch im Shopping durchsetzen. „Cradle to Cradle“ lautet ein zukunftsweisendes Designkonzept. Inspiriert durch die Natur, in der es keine Probleme mit Abfall gibt, geht es um die Entwicklung hochprofitabler Produkte, deren Bestandteile in biologischen und technischen Kreisläufen zirkulieren und so positive Effekte für Umwelt und Gesundheit erzeugen: kompostierbare Materialien zu verwenden und gebrauchte Materialien in Kreisläufen weiter zu nutzen. Das Nachfragepotenzial für Re-use- und Recycel-Konzepte ist enorm. Das ist bisweilen provokant. Ein Bäcker aus Hilden macht aus der Überproduktion eine Tugend: Statt zu viel gebackene Brote – 20 Prozent mehr Brot, als tatsächlich gekauft wird, muss derzeit gebacken werden, damit die Regale bis Ladenschluss voll sind – einfach wegzuwerfen, beheizt er damit seine Öfen. Das spart Gas, die CO2-Bilanz verbessert sich, die Betriebskosten der Öfen sanken um die Hälfte. Für die nachhaltige Zukunft sind Kreativität und Ideenreichtum gefragt – und Mut, neue Wege zu gehen. An der Fachhochschule Wiener Neustadt dient Altbrot als Ausgangsmaterial für Verpackungen. Übrigens: Verfütterung von Speiseresten an Tiere, jahrhundertelang Tradition, machen gesetzliche Auflagen heute praktisch unmöglich, ebenso die Weitergabe an Bedürftige oder Hilfsorganisationen. Kompostierung – also Recycling – ist oft die einzige sinnvolle Lösung.
Oder man nimmt Re-use wörtlich. Der Ernährungswissenschaftler Timo Schmitt leitet für die Berliner Tafel entsprechende Kochkurse, der österreichische Drei-Hauben-Koch Tom Riederer hat damit seinen ganz besonderen Ruf erkocht: Er rettet Wurstreste, Gemüseschalen und Kerngehäuse vor dem Abfall und macht die Sparkochkunst modern. Sein kulinarisches Statement gegen die Wegwerfgesellschaft („Nur der Idiot wirft’s weg“) in Buchform zeigt, wie man aus Apfelschalen, altem Brot oder Schinken- und Weinresten ein Menü zaubert. Tipps für Re-using in der Küche geben weltweit Websites. Eine kanadische Seite bietet einen Restküchenservice: Für übrig gebliebene Zutaten findet ein Klick das passende Rezept. Sharing auch für Lebensmittel zu nutzen versucht foodsharing.de: Privatpersonen, Händler und Produzenten können überschüssige Lebensmittel kostenlos anbieten oder abholen. Grundidee: Menschen in der Nachbarschaft teilen Essen, geben – etwa vor dem Urlaub – überschüssige Nahrungsmittel ab oder verabreden sich zum gemeinsamen Kochen, um Ressourcen zu sparen.
1. Save Food – nach Wasser- und Energiesparen kommt gedankenvoller Umgang mit Nahrungsmitteln als nächste Sparwelle.
2. Verwertung wird für Industrie und Handel zum neuen Nachhaltigkeitsbeweis.
3. Cradle to Cradle wird zum neuen Paradigma einer „müllfreien“ Gesellschaft.
Im Urbanismus gilt „Urban Farming“ als das nächste große Ding. Ziel ist eine Stadt, die sich selbst ernährt. Das zeigt sich an vielen Stellen: Zunächst wurde der Schrebergarten wiederentdeckt. Nun wird der Dachgarten zum kollektiven Steckenpferd. Im urbanen Raum entstehen gemeinschaftliche Gartenprojekte wie der Berliner „Prinzessinnengarten“ oder die „City Farm Schönbrunn“ in Wien. In Hochhäusern gedeihen riesige Themengärten. Bei der Eroberung des öffentlichen Raums steht „Guerilla Gardening“ als Trend neben Interventionen wie Flashmobs oder „Guerilla Knitting“. Gärtnern wird so zur coolen Betätigung urbaner Hipster.
Klimaforscher und Stadtplaner rufen das „Urban Farming“ schon zur Landwirtschaft der Zukunft aus. Statt Lebensmittel über lange Wege zu transportieren, sollten die Städter sie selbst vor Ort erzeugen. Ingenieure arbeiten an Visionen für die vertikale urbane Farm. Ein Gebäude mit 30 Geschossen könnte 50.000 Menschen mit Gemüse, Früchten, Eiern, Fisch und Hühnerfleisch versorgen. Im kleinen Stil wird dies von Bürgerinitiativen in San Francisco und New York umgesetzt, die mitten in der Stadt in Hinterhöfen und Baulücken, auf Dachterrassen und Balkonen Obst- und Gemüseanbau betreiben.
Urban Farming vereint mehrere Wünsche: Sehnsucht nach der Natur und dem Ursprünglichen, nach authentischen, lokalen Nahrungsmitteln mit dem diffusen Bedürfnis, autark zu sein, und angesichts von Wirtschafts- und Lebensmittelkrisen Versorgung selbst sichern zu können.
Von den Küchen, Dachgärten, Balkonen und gemüsebepflanzten Baulücken verbreitet sich das „Neue Grün“ auch wieder mehr und mehr in unsere Bade-, Schlaf- und Arbeitszimmer. Sie werden integrativer Teil einer „Healthy Living“-Architektur. Und in der Gastronomie wird es sogar üppig auf den Tellern inszeniert: Ein Radieschen im Kressebeet verweist auf seine Herkunft und weckt beim Essen Assoziationen zum Selber-Ernten; ein Gericht aus Kräutern, Blüten und Beeren erinnert an einen Sommerspaziergang, und ein Pilzgericht fungiert als Herbstbote. Die Inszenierung am Teller ist eine Sprache, die alle intuitiv verstehen. Sie veranschaulicht Paradiesverheißung und Konsum, und dass sich Chlorophilie, die unbedingte Liebe zu Pflanzen, nicht länger nur in individuell, sondern längst in kollektiven Handlungen äußert.
1. Gesundheit und Neo-Ökologie: Gleich zwei mächtige Megatrends schieben das Urban Gardening an.
2. Städte sollen sich selbst ernähren: Die neue Landwirtschaft wächst in der Stadt.
3. Stadtbewohner eröffnen einen riesigen Markt für wohnungstaugliche Landwirtschaft und Gartenbau.