Zukunftsthemen

Zukunft der Geschlechterrollen

Geschrieben von Zukunftsinstitut | Dec 16, 2023 1:09:17 PM

Der Megatrend Gender Shift schafft neue Märkte – und erschüttert die Gesellschaft. Es ist eine Entwicklung, die keineswegs nur Frauen betrifft, sondern mindestens ebenso stark die Männer – und andere Menschen, die aus dem Männchen-Weibchen-Schema ganz herausfallen. Deswegen haben wir den Megatrend, der bisher unter dem Namen Female Shift beschrieben wurde, in Gender Shiftumbenannt. Denn der Modetrend zum Vollbart oder gesellschaftliche Entwicklungen wie der Trend zur Regenbogenfamilie gehören eindeutig zu diesem Themenkomplex – aber sie sind keine „Frauenthemen“.

Der Gender Shift findet auf der ganzen Welt statt. Er ist ein „Global Shift“, der nicht auf die westliche Welt beschränkt ist: Bloggerinnen aus Saudi-Arabien posten gesellschaftskritische Sketche auf Instagram; Shinzo Abe kämpft – schon aus ökonomischen Gründen – mit dem retraditionalisierten Selbstbild der japanischen Frauen; und afrikanische Unternehmerinnen halten ihre Familien und Dorfgemeinschaften wirtschaftlich über Wasser. In der Türkei gehen Männer in Röcken auf die Straße, um für Frauenrechte zu demonstrieren; die Äußerung eines kanadischen Polizisten löste die weltweit stattfindenden „Slutwalks“ aus; während in russischen Medien gegen Schwule und Lesben gehetzt wird.

Und in Deutschland beginnt eine Diskussion darüber, was eigentlich einen guten Vater ausmacht, und wie Männer Kind und Karriere miteinander vereinbaren können. Lebenswelten und Arbeitswelten transformieren sich, neue Chancen für das Individuum tun sich auf, neue Märkte für die Wirtschaft. Überall auf der Welt.

Auch die oft zitierten Forderungen der Generation Y nach einer besseren Work-Life-Balance sind bei näherem Hinsehen eine Folge des Megatrends Gender Shift: Einer aktuellen Studie von Ernst & Young zu Folge sind die meisten Führungskräfte in den USA „Baby Boomer“, also kurz nach dem Zweiten Weltkrieg geboren. Ein Viertel dieser Chefs wird zuhause rundumversorgt von einer Ehefrau, die sich ausschließlich um Haushalt und Kinder kümmert.

Ganz anders sieht es bei ihren jungen Mitarbeitern aus. 80 Prozent der Angestellten unter 30 sind Teil eines Paares, in dem beide Partner Vollzeit arbeiten. Im Gegensatz zu ihren Chefs werden diese jungen Leute abends zuhause ganz sicher nicht von einem frisch gebratenen Steak und einem Stapel frisch gebügelter Hemden begrüßt. Hier macht sich also ein Generationen-Clash zwischen Führungsetage und Mitarbeitern bemerkbar. „They don’t get it“, schlussfolgert die Washington Post in einem Artikel über die Studie – die Führungskräfte verstehen einfach nicht, wo das Problem sein soll. Weil sie in einer anderen Welt leben.

Der Mann der Zukunft

War es früher in Ordnung, wenn der Chef ein Bäuchlein und Geheimratsecken hatte und ab und an mal die Geduld verlor – schließlich leistet er ja so viel! –, sind die Führungsriegen heute bevölkert von durchtrainierten Marathonläufern, die ihre kommunikativen Kompetenzen geschult und ihre „Soft Skills“ perfektioniert haben. „Nur“ gute Quartalszahlen vorlegen reicht nicht mehr: Man(n) muss dabei auch gut aussehen und die Form wahren. Dieses verschärfte Anforderungsprofil ist aber nicht nur in Führungsetagen von Unternehmen zu bemerken, sondern auch auf dem Fleischmarkt der Dating-Industrie.

Auf qualitativer Ebene verändert sich das Männerbild in Medien und Gesellschaft nicht wirklich. Es ist mehr eine quantitative Veränderung insofern, als zu den alten einfach immer noch mehr neue Erwartungen hinzu kommen. Die wenigen, die all diesen Anforderungen entsprechen können, haben unterschiedliche Namen: Alpha-Softies werden sie genannt, oder auch Beta-Männer.

Der aktuelle Gender Shift der Hetero-Männer ist so gesehen eine Spiegelung des Female Shift: Als in den 1980er Jahren die „Karrierefrau“ in Erscheinung trat, erfuhren Frauen genau dieselbe quantitative Anhäufung von Anforderungen. Zuvor mussten sie nur gut aussehen und eine tolle Hausfrau, Mutter und Gastgeberin sein. Heute muss eine Frau gut aussehen, eine tolle Hausfrau, Mutter und Gastgeberin sein, klug sein, im Job etwas zu sagen haben, sich kreativ selbst verwirklichen und viel Geld verdienen, dieses Geld geschmack- und sinnvoll ausgeben und sich am besten auch noch gemeinnützig engagieren, und natürlich sportlich sein. Warum sollten die Tiger Women, also die wenigen, die das alles schaffen, von ihren Männern weniger erwarten? Ob er will oder nicht: Der Mann muss nachziehen.

Doch so anstrengend das alles auch klingt: Keine Frau würde heute mit ihrer eigenen Großmutter tauschen wollen. Auch wenn die vielleicht weniger Stress hatte. Denn Frauen heute haben einen großen Spielraum, sich individuell zu entfalten, sich auszuleben, auszuprobieren, erfolgreich zu sein, glücklich zu werden. Das erhöhte Anforderungsprofil ist nur die Schattenseite eines reichen, bunten, vielgestaltigen Lebensportfolios, das im Prinzip fast jedem Individuum und jeder neuen Lebenssituation gerecht werden kann.

Und dieselbe Entwicklung zeichnet sich jetzt auch für Männer ab: Es wird mehr von ihnen erwartet, aber sie haben auch mehr Möglichkeiten als jemals zuvor. Auch ihre Geschlechterrolle verliert an Verbindlichkeit. So wie Frauen heute keine Angst mehr davor haben, als „alte Jungfer“ zu enden, werden Männer in Zukunft keine Angst mehr davor haben müssen, als „Schwächling“ zu gelten. Für viele Männer und Frauen wiegt diese große Freiheit den Kind-oder-Karriere-Stress allemal auf.

Wozu Karriere?

Bis völlige Gleichheit erreicht sein wird, wird es noch lange dauern. Doch auf lange Sicht werden die zwei größten Hürden auf dem Weg zur Lohngleichheit zwischen den Geschlechtern – die ungleiche Verteilung von Haus- und Familienarbeit einerseits und die Gläserne Decke andererseits – verschwinden. Denn Hausarbeit gewinnt an Attraktivität, die klassische Konzernkarriere ist auf dem absteigenden Ast. Vielleicht könnten Frauen, allen Widerständen zum Trotz, schon heute viel mehr Führungspositionen in der Wirtschaft besetzen – wollen aber einfach nicht?

Doch bei genauerem Hinsehen stellt man fest: Männer auch nicht. In einer Umfrage von 2015 antworteten nur 12 Prozent der befragten Männer zwischen 18 und 49, dass sie sich ganz und gar auf ihren beruflichen Erfolg konzentrieren würden, wenn sie sich für einen einzigen Aspekt ihres Lebens entscheiden müssten. 19 Prozent stellen Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung über alles andere. Und „soziale Bindungen“, dieser ach so „weibliche“ Wert? 68 Prozent.

Wo das Individuum seine Schwerpunkte im Leben setzt, hängt von den Vorlieben des Einzelnen immer stärker ab und immer weniger von gesellschaftlichen Rollenerwartungen. Ob ein Kind als Junge oder als Mädchen geboren wird, legt sein zukünftiges Schicksal nicht mehr fest.

Gender Shift bedeutet aber nicht nur, dass das Geschlecht an Verbindlichkeit verliert, sondern dass es sich über das Männchen-Weibchen-Schema hinaus entwickelt. Das wird aktuell besonders spürbar in der Familienpolitik: Das Adoptionsrecht für Homosexuelle wird in Deutschland gerade reformiert, nachdem das Bundesverfassungsgericht 2013 den Weg zur sukzessiven Zweitadoption für gleichgeschlechtliche Paare ebnete. Und seit ausgerechnet das erzkatholische Irland im Mai 2015 in einem Referendum für die Einführung der Homo-Ehe stimmte, stehen auch andere europäische Länder unter dem Druck, in diese Richtung weiterzudenken. Der Trend geht zur Regenbogenfamilie – und damit auch in Richtung eines post-binären Geschlechterverständnisses.

So wird in Australien, Indien und Bangladesch beispielsweise neben „weiblich“ und „männlich“ noch ein drittes Geschlecht offiziell anerkannt. Es ist allerdings umstritten, ob es sinnvoll ist, Kategorien zu überwinden, indem man einfach weitere Kategorien einführt. Zielführender scheint es, sich das Geschlecht als Spektrum vorzustellen, auf dem sich das Individuum mehr oder weniger in Richtung männlich, weiblich, oder in eine dritte Richtung denken kann.

Gerade von jungen und gebildeten Menschen wird ihre Geschlechtsidentität zunehmend als Spielfeld wahrgenommen, auf dem man sich ausprobieren kann und soll, um seinen eigenen Weg zu finden. Die Angst, als „schwul“ zu gelten, schwindet. In einer Befragung des Magazins “Neon” im Jahr 2008 unter 20- bis 35-Jährigen nach ihrer sexuellen Orientierung gaben zwei Prozent an, homosexuell zu sein, aber heterosexuelle Erfahrungen gesammelt zu haben. Umgekehrt bezeichnet bezeichneten sich sieben Prozent als heterosexuell mit homosexuellen Erfahrungen, und drei Prozent gaben an, bisexuell zu sein. Insgesamt ließen sich 14 Prozent nicht klar dem hetero- oder homosexuellen Spektrum zuordnen.

Prognose

Besonders junge Menschen höheren Bildungsstandes verstehen Gender schon jetzt als Spielfeld, auf dem man frei experimentieren kann. Diese Lust am Spiel mit der Geschlechtsidentität wird zunehmen. Geschlecht wird in Zukunft kein Schicksal mehr sein, das bei Geburt schon festgelegt ist, sondern ein weites Feld für individuelle Vorlieben und unterschiedliche Lebensphasen.

Damit legt das Geschlecht in Zukunft nicht mehr fest, wer in der Gesellschaft Macht hat und wer nicht. Dadurch, dass das Individuum durch sein Geschlecht nicht mehr auf bestimmte Verhaltensweisen festgelegt ist, können auch keine Ansprüche an bestimmte Privilegien mehr daran geknüpft werden. „Ein Mann, ein Wort“ – das gilt schon lange nicht mehr. Ziel der Gesellschaft und vor allem der Arbeitswelt ist eine Meritokratie, in der die individuelle Leistung darüber entscheidet, in welcher Position sich der Einzelne befindet – und nicht sein Körper oder seine sexuellen Vorlieben.