Somewheres & Anywheres
Der englische Publizist David Goodhart hat eine neue Ursache für den bösartigen Populismus und die gesellschaftlichen Spaltungen unserer Tage ausgemacht. Le Pen, Brexit, Trump, Pegida, AFD, die ewige Hasskultur im Netz – in der globalen Welt, so Goodhart, sind zwei neue „Meta-Klassen“ entstanden, zwei radikal verschiedene Lebens- und Fühlweisen. Diese Separat-Kulturen, so Goodhart, treten nun in einer Art neuen Kulturkrieg gegeneinander an.
- Die ANYWHERES (im Sinne von „Nirgendwos“) sind dadurch gekennzeichnet, dass sie zwar irgendwo wohnen – meist in einer Großstadt – aber so ortsungebunden sind, dass sie jederzeit umziehen könnten. Und das tun sie auch ziemlich häufig. Die gut bezahlten mobilen Angestellten, die Kosmopoliten und Globetrotter. Die Künstler, Kreativen und Konstrukteure des eigenen Lebens. Die Gebildeten und Bildenden, die Sinnsucher, Moralisten und Latte-Macchiato-Trinker. Anywheres sind die Gewinner und Bewohner der globalen Urbanisierung. Sie sprechen den Code universalistischer Werte und repräsentieren die kulturelle Hegemonie der multimobilen Großstädter.
- Die SOMEWHERES (etwa „Dagebliebenen“) sind hingegen diejenigen, die aus vielfältigen Gründen an einem Ort geblieben sind. Meistens nicht, weil sie es unbedingt wollten. Es hat sich nur nicht anders ergeben: Man blieb „daheim“, aber empfindet nicht unbedingt Heimat. Somewheres, das sind die Bewohner von Hochhaus-Ghettos, in denen der Beton bröckelt. Von Kleinstädten, in denen das Schwimmbad längst geschlossen und die Fußgängerzone seit den 80er Jahren nicht erneuert wurde. Von Vororten, die irgendwo im Nirgendwo ehemaliger Industriegebiete mit Penny-Märkten leben. Von Dörfern, in denen die Kneipe zu und der nächste Supermarkt weit entfernt ist. Von Kleinstädten, in denen der Zug durchfährt. Oder eben von sozial prekären Großstadtvierteln.
Nein, es geht bei dieser Spaltung nicht allein um die „Stadt/Land“-Frage. Es geht um Lebensgefühle und Optionen, Chancen, aber auch um Selbst-Definitionen. Um Mehrheiten oder Minderheiten. In der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten haben sich die Somewheres plötzlich als potentielle Mehrheit erwiesen. Die „Zurückgebliebenen“ des mittleren Westens konnten mit ihren Frustgefühlen Weltpolitik machen. Es geht um Deutungsmacht und es geht um Stolz. Das Zauberwort: Identität.
Obwohl wir uns in einer multimobilen, urbanen Gesellschaft wähnen, in denen die Grundwerte längst liberal, tolerant und eben „progressiv“ geformt sind, bleiben die Kerngruppen dieser Progression doch in der Minderheit. Anywheres sind laut Goodharts Definition in allen Wohlstandsländern eine Minderheit von 15 bis maximal 25 Prozent, die aber den Deutungsdiskurs bestimmen. Ihr Grundverständnis stammt aus ihrem sozialen Aufstieg, sie pflegen „achieved identities“, also ein Selbstbewusstsein, das überwiegend auf ihrem beruflichen Erfolg fußt.
Im Gegensatz zu den Somewheres, die sich über einen Ort, eine Subkultur-Gruppe, oft auch über die Nation definieren müssen, weil ihre berufliche Identität weder Stolz noch Gewinnergefühle begünstigt, haben Anywheres eine „transportable Identität“. Sie tendierten dazu, Freiheit und Autonomie zu schätzen, sind aber blind gegenüber den eigenen Privilegien. „Sie fordern Meritokratie und soziale Mobilität, weil sie die Gewinner dieses Spiels sind“, sagt Goodhart. „Sie haben die Wissensgesellschaft ausgerufen, die in Wahrheit nur ihnen nützt, denn nicht jeder ist schlau.“
Entscheidend für die neue soziale Differenz ist also nicht der Wohnort, sondern das Mindset. Für Anywheres ist der Wandel das, was sie antreibt, herausfordert, lebendig macht – auch wenn man manchmal scheitert. Für Somewheres ist Veränderung dagegen eine ständige Verlustrechnung oder sogar eine Demütigung. Sie erleben sich nicht als Handelnde, sondern als Opfer des Wandels. Zwar nutzen sie auch elektronische Medien, aber sie profitieren nicht davon im Sinne von Zugängen Die Zukunft gehört den GLOKAListen, die beide Elemente auf einer neuen Integrationsstufe in sich vereinigen, Heimat und offener Horizont zu jener Prosperität, die in den Großstädten durch Digitalität entstanden ist. Sie nutzen digitale Medien eher als Heimatersatz mit Wut-Komponente – so entstehen die berühmten Filter-Bubbles.
Existieren die beiden Milieus, die Goodhart beschreibt, wirklich so homogen und so getrennt voneinander? Kennen wir nicht alle Menschen, die in der tiefsten Provinz leben, und dennoch kulturell kosmopolitisch denken und fühlen? Haben wir als Menschen, egal ob Land- oder Stadtbewohner, nicht immer beides in uns: den Lokalisten und den Globetrotter, den Heimatsucher und den Veränderer?
Die Zukunft gehört den GLOKAListen, die beide Elemente auf einer neuen Integrationsstufe in sich vereinigen, Heimat und offener Horizont. Progression und Bewahrung. Und gibt es nicht massenweise Beispiele, wie sich Dörfer, Regionen, Stadtteile aus der Stagnation befreien, wo soziale Innovation entsteht, weil neue Allianzen zwischen aktiver Zivilgesellschaft, lokalen Unternehmern und klugen Politikern entstehen? Dörfer mit sozialem Zusammenhalt wachsen in der Stadt – in den zahlreichen Co-Living-Projekten, den genossenschaftlichen Wohnformen, in denen die Wohngemeinschaften der 70er eine Renaissance erleben. Urbane Problemviertel können sich mit Bürger-Engagement und Zivilcourage transformieren – zahlreiche Beispiele „Smarter Gentrifizierung“ weltweit zeigen es. Gleichzeitig bilden sich in den Flächenlandschaften die Progressiven Provinzen aus. Kleinstädte gewinnen neues Selbstbewusstsein. Regionen betreiben ein kluges Standortmarketing. Dörfer rekonstruieren sich rund um charismatische Bürgermeister. Die soziale Welt ist heute weitaus bunter, vielfältiger, komplexer als in der Industriegesellschaft. Und die Topografien von Stadt und Land sind es auch. Es leben die städtischen Dörfer! Hoch mit den kreativen Provinzen! Vorwärts im Kampf der rurbanen Landschaften!
Dokumentation
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