(David Bohm, Quantenphysiker und Philosoph)
Unzählige virtuelle und physische Verknüpfungen, nie versiegende Informationsströme, unablässig fortlaufende Streams, stetig anwachsende Big-Data-Berge: Die Digitalisierung hat zu einem subjektiven Gefühl der Beschleunigung geführt. Wir fühlen uns gehetzt, unter Druck, kommen im Kopf nicht hinterher mit dem, was sich in der rasant wandelnden virtuellen Welt tut.
Das führt zu Kurzschlussreaktionen, zu Denkfehlern und zu vorschnellen Entscheidungen: Wir kaufen die Bohrmaschine auf Amazon, weil sie die besten Bewertungen hat; wir liken das lustige Video, bevor wir es zuende geguckt haben, weil unsere Freunde es mögen; wir setzen unser Häkchen bei "Hiermit akzeptiere ich die AGBs", weil wir es schon hundertmal getan haben. Das Gefühl von Zeitdruck führt zu einem Denkmodus, der bestenfalls als oberflächlich zu beschreiben ist.
Denn sind wir gehetzt, denken wir das, was am einfachsten zu denken ist – und besonders einfach zu denken ist das Drastische, das Automatische, das Monokausale, das simpel-lineare Fortführen von Bekanntem als Projektion in die Zukunft. Wir denken in Daumenregeln und Gewohnheiten, die Energie und Anstrengung sparen. Der Psychologe Daniel Kahneman nennt diese Denkweise "schnelles Denken". Es erfordert nur wenig Zeit und Energie, greift zurück auf unser bereits vorhandenes Wissen und bestätigt uns in unserer Sichtweise der Welt. Wenn wir eine überschaubare Menge an Informationen besitzen, hilft uns diese schnelle Entscheidungsfindung, uns in unserer Umwelt zurechtzufinden – gewissermaßen auf Autopilot.
Gerade in digitalen Kontexten jedoch greift diese Methode oft daneben. Einfache Kausalzusammenhänge sind selten in der virtuellen Welt, Informationen unbegrenzt. Soziale Medien, Streams oder digitale Arbeitsumfelder sind komplexe, vernetzte, dynamische und rückgekoppelte Systeme. Wirkung und Ursache sind schwer zu trennen und stehen in schwer oder gar nicht durchschaubaren Wechselwirkungen. Diese Komplexität lässt sich nicht auf monokausale Zusammenhänge reduzieren. Rasant an Relevanz gewinnen dagegen Korrelationen und relative Aussagen. Wichtiger als die Frage nach der Kausalität wird die Frage, was aufeinander wie Einfluss nimmt und welche Wirkungen diese Verknüpfungen hervorbringen – vernetztes Denken also.
Der permanente Clash von Codes und Wirklichkeitswelten, die offline vielleicht gar keine Berührungspunkte hätten, feuert auch die aktuell spürbare Empörungskultur an. In der digitalen Aufmerksamkeitsökonomie dominieren extreme Meinungen und Wertungen, während moderate Statements und zurückhaltende Einschätzungen untergehen. Phänomene wie die Flüchtlingsdebatte, der Aufstieg der AfD oder das Phänomen Donald Trump hätten ohne diese Mechanismen der Streams mit hoher Wahrscheinlichkeit niemals diese Dimension angenommen – der Kampf um die Wahrheit ist ausgebrochen.
Die Digitalisierung senkt außerdem die Halbwertszeit von Informationen stark herab. Wissen ist immer seltener über längere Zeiträume zuverlässig. Das beginnt bei Kontaktdaten von Freunden und Bekannten, die früher säuberlich im Adressbuch notiert oder im Telefonbuch abgedruckt waren – heute managen wir ständig synchronisierende Kontaktdatenbanken, in denen das virtuelle Adressbuch mit E-Mail-Account und Online-Profilen vernetzt ist.
Auch Unternehmen bewegen sich heute in hochkomplexen, nichtlinearen, dynamischen Umwelten, die sich ständig verändern. Die Masse an Informationen, deren Herkunft oft undurchschaubar ist, das kleinteilig und polykontextural gewordene Wissen und die komplexen Wechselwirkungen zwischen den Kommunikationsströmen stellen neue Anforderungen an die Realitätsdeutung und Entscheidungsfindung.
Auf diese hypervernetzte Welt sind wir mental nicht vorbereitet: Das Denken in Vereinfachungen, Linearitäten und simplifizierenden Kausalitäten ist fest verankert in der westlichen Bildungstradition. Wir lernen Mathematik ab der ersten Klasse in der Schule, deduktives Folgern ist unsere natürliche Art, über Sachverhalte nachzudenken. In den nichtlinearen Dynamiken des Netzes jedoch hilft uns das wenig. Unser Denken und Handeln ist nicht geschult für den chaotischen virtuellen Raum und so verlieren wir uns oft in den Weiten der Informationsströme, treffen vorschnelle Schlüsse über "die Welt da draußen" und handeln unbedacht.
Wie also können wir unser Denken ent-schleunigen?
Slow Thinking bedeutet: Ausbrechen aus dem Modus des linearen Folgerns, sich von dem gefühlten Chaos "da draußen" zu distanzieren und sich auf die mentalen Kompetenzen zu besinnen, die unter Zeitdruck keine Wirkung entfalten können.
Vernetzt denken heißt auch, sich auf die Metaebene zu begeben, mit Gelassenheit auf das Chaos zu blicken und es gleichzeitig anzunehmen. Zu akzeptieren, dass sich die Komplexität des Netzes nicht reduzieren lässt – sich gelassen ins Chaos stürzen ohne dabei den Kopf zu verlieren. Langsames Denken bewegt sich in verschiedene Richtungen und bezieht mehrere mögliche Prämissen flexibel ein. Es vermeidet voreilige Schlussfolgerungen und Bewertungen und lässt Entscheidungen über längere Zeiträume reifen. Und: Es bezieht bewusst und aktiv Dimensionen der menschlichen Psyche mit ein, die eigentlich nicht für Rationalität stehen. Insbesondere vier Komponenten erleben im Slow Thinking ein Revival:
Umso schneller die Welt um uns herum sich zu drehen scheint, umso wichtiger wird das Innehalten, die Innenschau und das Kultivieren der eigenen Denkmuster und Entscheidungsprozesse. Vernetzt zu denken bedeutet auch: achtsam zu sein für die Qualität mentaler Prozesse, Entscheidungen Zeit zu geben und scheinbar irrationalen Komponenten Raum zu geben, um ihre Wirkung zu entfalten.