Resilienz: Zukunftskraft für Mensch, Gesellschaft, Wirtschaft und Planet
Der Modus der Krise ist zum festen Bestandteil einer neuen Normalität geworden. Die Netzwerkgesellschaft bietet keine langfristig stabilen oder verlässlich berechenbaren Strukturen mehr. Die Vorstellungen von Eindeutigkeit und Steuerbarkeit, die noch bis ins späte 20. Jahrhundert galten, sind endgültig passé. Beständigkeit ist unter vernetzten Vorzeichen immer nur punktuell oder phasenweise gegeben. Das enorm hohe Maß an Nichtwissen, die Fülle der „unknown unknowns“, stellt die interdependente, hyperkomplexe Welt des 21. Jahrhunderts vor die Frage: Wie sieht ein produktiver Umgang mit Krisen aus, die nicht prognostiziert werden können – oder noch nicht einmal gedacht sind?
Je mehr die hochkomplexen Herausforderungen der vernetzten Gesellschaft Ungewissheit und Unsicherheit steigern, umso wichtiger werden kluge systemische und intersektorale Kompetenzen und Konstellationen. Die neuen Zukunftsfragen lauten: Wie können sich individuelle und soziale Systeme gegen Unvorhergesehenes wappnen? Was stärkt die Überlebensfähigkeit in Krisenzeiten? Und was stiftet systemischen Zusammenhalt? Antworten finden sich im paradigmatischen Umschalten auf Komplexität und Adaption. Die 2020er-Jahre werden zum Jahrzehnt der Resilienz, im Sinne der dynamischen Kombination aus Stabilität (Identität, Sicherheit, Verlässlichkeit) und Flexibilität (Beweglichkeit, Offenheit, Kreativität). Für die Sphären Planet, Mensch, Gesellschaft und Wirtschaft ergeben sich neue Gegebenheiten und To-dos, um Resilienz zu realisieren.
1. Planet
Das resilienteste System ist das Leben selbst: die Natur, die Evolution, der Planet Erde. Die „natürliche Ordnung der Dinge“ ist dabei in Wirklichkeit eine große Unordnung: Lebende Systeme sind „fragil stabil“ und „messy“, sie basieren auf Fehlertoleranzen und erzeugen ständig neue Adaptionen. Natürliche Resilienz ist also keine höhere Art von Effektivität, sondern eher ein „wilder“ Überfluss, der Reserven bildet. So enthält auch der menschliche Gen-Code riesige Mengen scheinbar „unproduktiver“ Schleifen, und die Fotosynthese nutzt nur 2 Prozent des Sonnenlichts. Im Anthropozän muss die Menschheit nun neue Wege finden, um wieder besser an diese natürlichen Kreisläufe anzuknüpfen.
These: Die globalen Krisen sind Treiber eines ökologischen Anthropozäns.
Die großen Krisen unserer Zeit, allen voran der Klimawandel, sind menschengemacht. Um unser Überleben auf der Erde nachhaltig zu sichern und die planetare Resilienz zu stärken, müssen wir unser Verhältnis zur Welt und zur Natur radikal ökologisieren.
Was jetzt zu tun ist
Ressourcen schützen: Ein ökologisches Anthropozän braucht ökonomische und soziale Strategien, die klimastabile Entwicklungen fördern, für alle Menschen. Die Unterstützung von CO2-armen Industrien und die Entwicklung von Übergangsplänen und Alternativen für die Industrien des Ölsektors sind dabei vielversprechende Ansätze. Der Schutz der Ressourcen muss oberste Priorität haben.
Städte stärken: Resiliente Städte sind ein zentraler Schlüssel zu einem nachhaltigen Planeten. Die Grundlage liefern zukunftsgewandte Gesetze, die urbane Zersiedelung verhindern, die Dekarbonisierung der Stromversorgung ermöglichen und grüne Alternativen im Bausektor fördern.
Mobilität modernisieren: Autofreie Zonen, bessere und schnellere Zugverbindungen, erweiterte ÖPNV-Angebote, fahrradfreundliche Städte – all das sind Faktoren, die insbesondere Großstädte resilienter machen. Um nachhaltige Initiativen und Infrastrukturen zu etablieren, muss sich die Mobilität weg von Auto und Flugzeug bewegen, hin zu gemeinschaftlich nutzbaren Konzepten und urbanen Infrastrukturen, die aktive Mobilitätsformen begünstigen.
Ins Tun kommen: Über die Klimakrise und ihre Auswirkungen mit anderen Menschen zu reden, verringert soziale Distanz und hilft, ins Handeln zu kommen. Selbst wenn es nur die Entscheidung ist, weniger Fleisch zu essen: Jede und jeder kann dazu beitragen, die Umwelt zu schützen. Sich zu engagieren hilft auch, aus Ohnmachtsgefühlen herauszukommen: Die Wirkung des eigenen Handelns zu spüren, stärkt die persönliche Resilienz – so wie jede umweltbewusste Handlung die Resilienz des Planeten erhöht.
Klimafreundlicher leben: Die Erde wird vor allem dadurch gestärkt, dass man sie in Ruhe lässt. Die Coronakrise hat deutlich gemacht, wie schnell die Natur zurückkommen kann in Räume, die zuvor von Menschen besetzt wurden. Die Maximen, die sich in der ersten Phase der Krise etablierten, gelten auch in Zukunft: Wer mehr mit dem Fahrrad oder zu Fuß unterwegs ist und lokaler und regionaler konsumiert, hilft dem Planeten.
2. Mensch
Die zentrale Voraussetzung für den Weg zu mehr Resilienz ist ein Bewusstseinswandel, der individuelle und kollektive Denk-, Sicht- und Verhaltensweisen transformieren kann. Für jedes einzelne Individuum stellt sich damit auch die höchst persönliche Frage: Wie kann ich – insbesondere in Krisenzeiten – dazu beitragen, die eigene und die allgemeine Lebensqualität zu erhöhen und die Zukunft positiver zu gestalten? Ein wichtiger Faktor für die Entwicklung einer höheren sozialen Rationalität und einer neuen Wir Komplexität ist dabei auch die Anerkennung von Emotionalität.
These: Resonanz wird zur Leitmaxime des spätmodernen Individuums.
Mit dem Peak der spätkapitalistischen Konsumgesellschaft geht eine mentale Revolution einher. Auf die Ära der Selbstoptimierung folgt die Epoche der Resonanz. Individuelle Resilienz kann nur gelingen, wenn der Mensch sich wieder als soziales Wesen begreift.
Was jetzt zu tun ist
Achtsamkeit fördern: Achtsamkeit ist der wichtigste Gegentrend zur Digitalisierung – und ein zentraler Faktor für Resilienz. Für ein langfristig gesundes und produktives Arbeitsklima muss daher nicht nur die digitale Infrastruktur stimmen, es muss auch genug Raum für Ruhe, Erholung und Regeneration vorhanden sein. Unternehmen können Mitarbeitenden einen achtsamen Arbeitsalltag ermöglichen, indem sie etwa meetingfreie Tage, Sabbaticals und Offline-Zeiten anbieten – oder praktische Angebote wie Yoga oder Meditation.
Wir-Kultur pflegen: Die nächste Evolutionsstufe der Individualisierung ist die Co-Individualisierung, die Ich-Entfaltung in Wir-Kontexten. In der nächsten, co-individualisierten Gesellschaft steht nicht mehr das einzigartige, autonome Ich im Vordergrund, sondern die Verortung des Individuums in Gemeinschaften. Auch eine resiliente Unternehmenskultur setzt deshalb auf Wir-Kultur statt auf Ellenbogenmentalität.
Kreativität ermöglichen: Befreien Sie sich vom Kreativitätszwang! Wahre Kreativität lässt sich nicht methodisch planen, sondern lebt vom Loslassen – erst dann kann sie ihre Potenziale zur Stärkung der individuellen und überindividuellen Resilienz entfalten. Sehr viel wertvoller als etwa punktuelle Kreativworkshops ist deshalb eine grundsätzliche Offenheit für Kreativität: Freiräume, in denen Mitarbeitende andere, inspirierende Erfahrungen neben der Arbeit machen können.
Werte kommunizieren: Die neue Wir-Kultur ist geprägt von der Verschiedenheit im Miteinander, und Werte bilden dabei die verbindenden Elemente. Unternehmen, die ihre eigenen Werte kennen, kultivieren und klar kommunizieren, nach innen wie nach außen, werden zu Orientierungspunkten in unsicheren Zeiten. Auch der Einbezug der Mitarbeiterschaft in Veränderungsprozesse stärkt die gemeinsame Wertebasis – und jedes einzelnen Mitarbeitenden.
Sinn stiften: In den kommenden Jahrzehnten wird die Frage nach dem Sinn und Zweck des Arbeitens und Konsumierens immer mehr ins Zentrum rücken. Mitarbeitende und Konsumierende erwarten Arbeitgeber, Produkte und Dienstleistungen, die ihre Lebensqualität steigern und echte gesellschaftliche und ökologische Mehrwerte zu schaffen. Unternehmen müssen sich und ihre Angebote konsequent auf diese Sinn-Parameter prüfen.
Ganzheitlich handeln: Resilienz ist keine Privatsache. Individuelle, organisationale und gesellschaftliche Resilienz müssen stets zusammen gedacht werden. Unternehmen müssen Strukturen schaffen, die Resilienz auf allen Ebenen ermöglichen – für Menschen, für die Organisation und für die Gesamtgesellschaft.
3. Gesellschaft
Die Idee eines solidarischen „Wir“, die während der Corona-Krise eine neue Popularität erlangte, birgt viele Potenziale für eine Stärkung der Sicherheit in einer vernetzten Gesellschaft. „Systemrelevant“ sind dabei vor allem die „weichen“, kulturellen und intersubjektiven Faktoren, die den kollektiven Resilienzgeist einer Bevölkerung ausmachen. Das Jahr 2020 könnte dabei einen Turning Point markieren, von neuen Revolten gegen Despoten und der Abwahl Donald Trumps bis zum „New Green Deal“ und den Commitments vieler Städte und Länder zu einer postfossilen Zukunft. Jetzt ist die Zeit, um in einer gespaltenen Gesellschaft neuen Zusammenhalt zu stiften.
These: Eine resiliente Gesellschaft fordert und fördert ein progressives Wir.
Gesellschaftliche Resilienz erwächst aus einem zukunftsgewandten Zusammenhalt. Der kollektive Umgang mit Krisen kann nur gemeinsam gelingen – in Form eines progressiven Wir, das Solidarität, Vertrauen und Vielfalt stärkt.
Was jetzt zu tun ist
Begegnungsräume schaffen: Die oberste Maxime einer krisenresilienten Gesellschaft besteht darin, das Verständnis füreinander zu fördern. Der Austausch unterschiedlicher Perspektiven, Meinungen und Erfahrungen bildet ein gemeinsames Fundament für Solidarität und Gemeinschaft. Auch Unternehmen können dazu beitragen, indem sie etwa Begegnungsräume schaffen, in denen Mitarbeitende für sie relevante Themen offen besprechen können.
Kompetenzen fördern: Da eine resiliente Gesellschaft auf den Ressourcen ihrer Individuen beruht, wird die aktive Förderung von Lernkulturen immer wichtiger. In unternehmerischen Kontexten betrifft das vor allem das Angebot von Schulungen, Weiterbildungsmaßnahmen und diversen anderen Lernformaten. Ebenfalls resilienzfördernd ist die Etablierung einer Fehlerkultur, die es Mitarbeitenden erlaubt, auch im Scheitern zu wachsen.
Wissensnetzwerke bilden: Wissensnetzwerke sind sowohl in Zeiten der Krise als auch als präventive Maßnahme von hoher Relevanz: Wissen zu teilen und zugänglich zu machen, erhöht die kollektive Intelligenz und ermöglicht Innovationen. Auch Unternehmen profitieren von einem bereichs- und positionsübergreifenden Wissensmanagement, intern wie extern. Auch der bewusste Fokus auf Diversität erweitert das Lernspektrum – und hilft, blinde Flecken aufzudecken.
Partizipation ermöglichen: Im Zeichen der Vernetzung wächst in der Bevölkerung der Wunsch nach aktiver Teilhabe an der Gestaltung der Gesellschaft. Auch im beruflichen Alltag werden damit partizipative Elemente wichtiger, allen voran der aktive Einbezug in Problemlösungs- und Entscheidungsfindungen. Unternehmen, die Mitarbeitende aktiv an ihren Entscheidungen teilhaben lassen, fördern die Selbstwirksamkeit – und damit auch eine organisationale Resilienz, die der gesamten Gesellschaft zugutekommt.
Brücken bauen: So wie Verbindungen zwischen verschiedenen Gesellschaftssphären die gesellschaftliche Resilienz erhöhen, stärken Kooperationen zwischen Unternehmen, Organisationen und Institutionen die organisationale Resilienz, insbesondere im Hinblick auf Krisenfälle. Um vom Austausch und von gemeinsamen Handlungspotenzialen zu profitieren, wird daher auch für Unternehmen der Brückenbau essenziell – sowohl zu Organisationen aus anderen Teilsystemen der Gesellschaft als auch zu den Akteuren der Zivilgesellschaft.
4. Wirtschaft
Hatten Unternehmen in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten „Zukunft“ fast ausschließlich mit technischen Entwicklungen und Utopien verbunden, richtet sich die Beschäftigung mit Zukunftsfragen nun zunehmend ganzheitlicher aus. Dabei bildet sich sukzessive ein neues, ökosystemisches Bewusstsein heraus: Das Unternehmensverständnis setzt weniger beim Produkt und beim Markt an, sondern geht zunehmend aus von den größeren Kontexten Natur, Mensch und Gesellschaft. Diese neue Entwicklungskurve in Richtung Resilienz macht auch Konzepte wie die Gemeinwohl-Ökonomie und die Kreislaufwirtschaft alltagstauglich.
These: Die nächste Ökonomie zielt auf Resilienz statt Effizienz.
Im Kontext multipler Krisen wird systemische Anpassungsfähigkeit wichtiger als die Aufrechterhaltung des Regelbetriebs. Resiliente Unternehmen sind nicht maximal effizient, sondern maximal verantwortungsbewusst und generationengerecht.
Was jetzt zu tun ist
Kultur stärken: Resiliente Organisationen brauchen Mitarbeitende, die Eigenverantwortung übernehmen wollen und dürfen – und Führungskräfte, die Verantwortung abgeben können und Nähe zulassen. Erst auf Basis einer echten Vertrauenskultur kann ein kollektives Mindset entstehen, das die permanente Weiterentwicklung der gesamten Organisation ermöglicht. Wichtig ist dabei der Faktor Diversität: Unternehmen, die vielfältig aufgestellt sind hinsichtlich Alter, Geschlecht, Herkunft oder Qualifikationen, können besser auf Störungen und Veränderungen reagieren.
Vision schärfen: In unsicheren Zeiten ist es entscheidend, dass alle Mitarbeitenden an einem Strang ziehen. Richtungsweisend sind dabei gemeinsam geteilte Werte und Denkweisen: die Vision des Unternehmens, die Frage nach seinem Warum und Wofür, nach den positiven Veränderungen, die es anstrebt. Um als verlässlicher moralischer Kompass zu wirken, muss eine Vision allerdings aktiv gelebt werden. Solange Werte lediglich proklamiert, aber nicht glaubwürdig praktiziert werden, sinkt die organisationale Resilienz rapide.
Strategie anpassen: Die nächste Ökonomie rückt die Frage nach dem Sinn und Zweck des Wirtschaftens ins Zentrum. Der Fokus liegt mehr denn je auf gesellschaftlichen und ökologischen Mehrwerten. Vor diesem Hintergrund müssen Unternehmen ihre bisherigen Praktiken hinterfragen und bessere Problemlösungen für sämtliche Stakeholder entwickeln. Das systemische Wissen um die Entwicklung von Kundenwünschen, Kernkompetenzen, Wettbewerbsumfeldern und die eigene Positionierung im Markt wirkt dabei wie ein Frühwarnsystem.
Ökosysteme schaffen: Erfolgreich in der vernetzten Ökonomie sind Unternehmen, die sich über ein offenes Ökosystem definieren und den aktiven Austausch mit allen Stakeholdern pflegen, um die Lern- und Entwicklungsfähigkeit des gesamten Systems nutzen. Das Unternehmensverständnis wandelt sich vom abgegrenzten Territorium zum offenen Hafen – denn gemeinschaftsorientierte Strukturen zahlen immer auch auf die organisationale Resilienz ein. Digitale Tools können die Ausrichtung auf Kollaboration und Partizipation unterstützen.
Menschen ermächtigen: Im Kern beruht die Resilienz eines Unternehmens auf den Menschen, mit denen es verbunden ist. Zentral ist der Aufbau einer Vertrauenskultur, die das Prinzip der Selbstorganisation und die Kultivierung jener Metaskills fördert, aus denen komplexe Zukunftskompetenzen erwachsen – von Kreativität und Adaptionsfähigkeit bis zu Kooperationsbereitschaft und Eigenverantwortung. „HR“ wird künftig vor allem für „Human Relations“ stehen.