Radikale Ehrlichkeit
Der US-amerikanische Psychotherapeut Brad Blanton hat sieben Bücher zum Thema Wahrheit und Lügen verfasst. Sein Prinzip ist ziemlich einfach: Radical Honesty, also brutale Ehrlichkeit. Immer die Wahrheit! Kein Taktgefühl – der Filter zwischen Hirn und Mund soll völlig verschwinden. Laut Blanton gibt es kein Richtig oder Falsch, wenn man in der puren Ehrlichkeit unterwegs ist. In selbstehrlicher Manier bezeichnet sich der „Truth Doctor“ als „white trash with a PhD“. Blanton verspricht ein erfüllteres und glücklicheres Leben, wenn wir radikal ehrlich werden.
Die Lügen-Dynamik durchbrechen
Wir lügen ungefähr 150- bis 200-mal am Tag – darunter fallen auch Ironie, Untertreibungen und jene Routinen des Zynismus, die wir schon gar nicht mehr wahrnehmen. Diese oberflächliche Nettigkeit im alltäglichen Umgang erscheint Blanton als zentraler Treiber für den gefühlten Dauerstress der Gesellschaft. Seien es Ehen, Freundschaften oder auch nur die Interaktion mit dem Schaffner: Alles ist durchdrungen von Unwahrheiten, die uns und unsere Beziehungen belasten.
Blanton zufolge entsteht diese Dynamik in Wirklichkeit aus einer zentralen Ursünde: dem Belügen unserer selbst. Wir haben unbewusst Angst davor, zu viel von dem zu empfinden, was wir nicht empfinden wollen. Das ist bei jedem etwas anderes, je nachdem, welche Erfahrungen im Laufe des Lebens gemacht wurden. Wir reden immer nur darüber, wessen Interpretation der Realität die richtige ist. Dem Partner einmal sagen, was man wirklich denkt, passiert meistens nur in einem ernsten Beziehungsstreit. Wenn wir unserem Partner vorwerfen, was er alles falsch macht, stellen wir uns meist nicht unseren eigenen Gefühlen, sondern verharren in einer Interpretation von richtig und falsch. Das führt nirgendwohin, wir geraten uns nur immer wieder in die Haare.
Das Gegenrezept: Um den kommunikativen Barrieren des digitalen Zeitalters und der Oberflächlichkeitskultur zu trotzen, durchbricht man sie einfach, ohne Rücksicht auf Verluste und Scham. Dabei geht es aber nicht primär um das Beleidigen seines Umfeldes und den damit verbundenen Schockeffekt. „Oh, du hast aber zugenommen. Das sieht nicht gut aus!“ fällt definitiv in die Kategorie des unnötigen Gemeinseins. Aber: Wenn wir bewusster wahrnehmen und direkter benennen, was uns innerlich bewegt, könnten wir auch unseren Gefühlen auf die Spur kommen und sie dem anderen mitteilen. So würden Gefühle sichtbar – und damit auch veränderbar. Eine zentrale Voraussetzung, um Konflikte besser zu lösen.
Ein neuer Zugang zu Emotionen
In Zeiten von Trump und Co. stehen Wahrheit und Ehrlichkeit dermaßen unter Beschuss, dass nur eine starke Konteroffensive etwas bewirken kann. Genau hierin liegt der Zauber. Denn im Grunde ist radikale Ehrlichkeit ein Eingeständnis des psychologischen und biologischen Determinismus, dem wir alle unterliegen. Ich reagiere wütend, traurig, grantig, genervt auf einen Reiz. Statt diesen Prozess ehrlich einzugestehen und zu kommunizieren, verstecken wir uns hinter abwertenden Floskeln. Und verweigern Kommunikation.
Schwärmt der Partner „Radikale Ehrlichkeit ist so radikal, dass sie sich ständig selbst widerlegt. Wenn man erkennt, dass man ein arrogantes Arschloch ist, entdeckt man plötzlich seine liebenswürdigen Seiten. Und vice versa.“ beim gemeinsamen Frühstück von der Idee, einen Hund zu adoptieren, kann man es bei einem passiv-aggressiven „Irgendwann können wir uns vielleicht einen Hund zulegen“ belassen – und weiter Zeitung lesen. Dann kann man sich einreden, nur schlecht drauf zu sein, weil man zu wenig geschlafen hat, und das Thema auf einen besseren Tag verschieben. Nach dem Prinzip der radikalen Ehrlichkeit könnte man aber auch genau das sagen, was man fühlt: „Dein Gerede über Hunde bringt in mir heute wirkliche Aggressionen auf, und Pudel widern mich an.“ Der Erfolg wäre Klärung, sofort und direkt.
Aber geht mit einer solchen Reaktion nicht jegliche Form von Beziehung zugrunde – und jedes Gespräch endet in einem Beleidigungswettbewerb? Laut Blanton nur dann, wenn die Beziehung sowieso am Ende ist. Und dann wäre jeder Aufschub sowieso Zeitverschwendung. Vor allem aber bedeutet radikale Ehrlichkeit auch, die positiven Gefühle direkt rauszulassen. Die Wahrheitszensur unserer Zeit hat beide Enden des Gefühlsspektrums als zu emotional erklärt. Durch das Eingestehen einer deterministischen Reaktion auf das Gesagte und Gefühlte werden Kommunikationsbahnen eröffnet, die uns mittlerweile als fast unmöglich erscheinen.
Und dennoch: Was, wenn in einer Welt der Gefühlseingeständnisse jeder unaufhörlich seine abscheulichsten Hass-Bekundungen verbreitet? „So fühle ich mich eben!“ Dieses Spiel kann nur funktionieren in einer überkorrekten Welt, in der Welt der Political Correctness. Der Kontrast kann nur dann so stark werden, wenn viele der positiv-ehrlichen Botschaften gar nicht unsere Wahrnehmung erreichen – und nur die negativen gehört werden. Man stelle sich eine Massenbewegung der „radikal netten Trolle“ vor, die die Wut-Krieger des Internets mit endlosen botgenerierten Nachrichten wie „Du bist ganz wunderbar so wie du bist!“ bombardieren …
Gegenentwurf zum Populismus
In vielen Ländern entstehen derzeit Therapien im Sinne von Blantons Theorie der radikalen Ehrlichkeit. Von individuellem Coaching bis zu Gruppen-Workshops, für jeden ist etwas dabei. In den extremsten Kursen zieht man sich vor einer Gruppe von Fremden aus und lässt die eigenen körperlichen Mängel radikal ehrlich kritisieren. „Findest du nicht auch, dass ich scheiße aussehe?“ – „Allerdings.“ Dieses Abhärtungstraining hat leicht sektoiden Charakter und erinnert an die Schrei-Encounter-Gruppentherapien aus den 1970er-Jahren. Teilnehmer berichten allerdings von erstaunlichen Umdrehungen: Plötzlich finden sich die Hässlichen schön, weil sie lernen, sich nicht von den Bewertungen anderer abhängig zu machen.
Es ist illusionär, zu denken, dass man immer ehrlich sein kann. Dazu sind die sozialen und emotionalen Kosten zu hoch. Man muss aber auch nicht immer den Weg des geringsten Widerstandes gehen. Nach einem einwöchigen Workshop des durchgehend ehrlichen Beleidigens und Beleidigtwerdens erkennt man, wie kostbar, wie schwierig und wie lohnend Ehrlichkeit sein kann. In der Realität ist Ehrlichkeit nichts anderes als kommunizierte, individuelle Wahrheit. Daraus folgt Befreiung von den Tücken und Verengungen der eigenen Wahrnehmung, die wir für die Wirklichkeit halten. Wir lernen sozusagen, uns nicht mehr mit uns selbst zu verwechseln. Auch beim Aufarbeiten der Vergangenheit kann die radikale Ehrlichkeit hilfreich sein. Viele der unterdrückten, längst vergessenen Traumata werden überwunden mit dem Mantra: „Get over sh*t and be happy!“
Dort, wo es auf Wahrheit ankommt, in unseren engsten Beziehungen, ist radikale Ehrlichkeit enorm wirksam. Und durch die Verbesserung unserer individuellen Beziehungen können wir auch unsere Beziehung zur Gesellschaft retten. Radikale Ehrlichkeit ist die positive, kuratierte Gegenbewegung zum opportunistischen, zynischen Populismus, der scheinbare Ehrlichkeit nur als Ausrede benutzt, um sich nicht dem eigenen Frust zu stellen. Ein Gegenentwurf zu pauschalisierenden Parolen, Fake News und Hetze. Denn glückliche Gesellschaften bestehen aus beziehungsfähigen Menschen. Und Beziehung kann nur entstehen, wenn man Illusionen, Lügen und quälende Gefühle durchleben – und damit auch loslassen – kann.
Literatur:
Blanton, Brad: Radical Honesty. How to Transform Your Life by Telling the Truth. La Verne (TN) 2007