Pioniere zukünftiger Wohnkonzepte
Häufig bestimmen andere – Architekten, Stadtplaner oder Immobilienentwickler – wie wir leben und auch in Zukunft leben werden. Das entspricht aber nicht immer unseren Wünschen, wie wir selbst leben wollen. Die beiden Avantgarde-Lebensstile des Modernen Nomaden und des Urban Matcha drehen den Spieß allerdings um: sie etablieren neue Wohnkonzepte, indem sie sich nicht an gängige Definitionen von Zuhause als festen Wohnort und an die üblichen Stereotypen von Stadt und Land halten. Hinzu kommt der Lebensstil des Neo-Biedermeiers, der zwar auf den ersten Blick eher konservativ erscheint, jedoch mit seinem starken Bedürfnis nach Gemütlichkeit und Herzlichkeit eine neue Form der Sociability etabliert: das nordische Lebensgefühl von Hygge hält nun auch in Mitteleuropa Einzug.
Moderner Nomade
Niemand steht so sehr für ein urbanes und gleichzeitig globales Mindset wie der Moderne Nomade. Er genießt die Vielfalt und Ungezwungenheit, zugleich gestaltet er die Dynamik großer Städte ganz entscheidend mit. Moderne Nomaden sind nie lange am selben Ort und versuchen gezielt die kulturellen und lokalen Eigenheiten der Regionen aufzusaugen, in denen sie sich bewegen. Mit diesem Interesse verstärken sie die Entwicklung, dass sich in Städten und Gemeinden Wirtschaftszweige herausbilden, die genau das liefern: Authentizität, soziale Verbindungen und regionale bzw. lokal gebundene Erlebnisse.
Der Moderne Nomade kommuniziert, arbeitet und lebt unterwegs und kann mit dem Konzept Heimat nur noch wenig anfangen.
Den Megatrend Globalisierung und seine Implikationen begreifen Moderne Nomaden als Selbstverständlichkeit; eine Fixierung auf Heimat und Traditionen ist ihnen fremd. Ebenso wie eine klare Trennung von Orten und Räumen in die Kategorien „privat“ und „öffentlich“ oder auch „Arbeiten“ und „Wohnen/Leben“: Der Moderne Nomade lebt im wahrsten Sinne des Wortes im „Third Home“: Die dritten Orte, die Räume des Dazwischen, sind Orte der Begegnung. Third Places können öffentliche Räume in der Stadt sein, aber auch halböffentliche Orte wie Bahnhöfe, Bildungseinrichtungen, Sport- oder Kulturstätten sowie Geschäfte und Gastronomie. Dadurch bekommen diese Orte neue Bedeutungen, neue Dynamiken und neues Leben. Das Café wird zum Arbeitsplatz und die Straße zum sozialen Treffpunkt.
Mit diesem Selbstverständnis treibt er die Entwicklung zum Temporary Living entscheidend voran: das ungezwungene Leben und Arbeiten an Orten der Begegnung, das der Moderne Nomade in Form von Co-Working- und Co-Living-Spaces oder Serviced Apartments vorfindet. Diese Orte bieten ihm hohen Komfort, die Möglichkeit easy zwischen Gemeinschaft und Privatsein zu switchen sowie die gesuchten authentischen Begegnungen, ohne dass sie die Übernahme von Verantwortung oder Verpflichtungen bedingen würden. Denn seine persönliche Freiheit ist dem Modernen Nomaden heilig.
Urban Matcha
Der kreative Lebensstil des Urban Matcha ist ein zentraler Akteur moderner Städte, in denen Innovationen und Trends entstehen – in den Metropolen Europas ist er kaum zu übersehen: Er fällt auf durch Kleidungsstil und Konsumverhalten, er macht Meinung und tritt als Trendsetter auf. Dabei genießt er die Aufmerksamkeit, die er erzeugt, und nutzt seine Vorreiterrolle, um seine Werte zu vermitteln.
Im Gegensatz zum Modernen Nomaden sieht er die Übernahme von Verantwortung überwiegend als etwas Positives an. Das lässt Urban Matchas zu nachhaltigen Gestaltern ihrer lokalen Communitys werden, in denen sie sich gerne intensiv und langfristig einbringen: Ob sie Obst und Gemüse in Nachbarschaftsgärten anpflanzen oder gemeinsam Straßenfeste für ihr Viertel planen, der Fokus liegt auf der Gemeinschaft. Damit bringen Urban Matchas ein dörflich-familiäres Lebensgefühl in das Umfeld der Großstadt: Sogenannte „Rural Citys“ entstehen, die Stadt wird zu einem Konglomerat segmentierter Identitätsinseln. Sie können als Ausdruck des Bedürfnisses nach einem neuen Wir-Gefühl verstanden werden, das aus der sich verstärkenden Individualisierung der vergangenen Jahrzehnte erwachsen ist.
Die Großstadt ist der Playground des Urban Matcha, das Fahrrad Fortbewegungsmittel seiner Wahl.
Trotz allem Engagement opfern Urban Matchas jedoch nie ihre Freiheit: Sie wollen sich selbst verwirklichen und ihr Leben und Umfeld ganz individuell gestalten können. Das macht sie auch zu Treibern des Craftwork-Trends, sie schätzen die Authentizität handwerklicher Erzeugnisse. Dass der Großteil der Urban Matchas eher zur älteren Hälfte der Bevölkerung zählt, wirkt sich in keinster Weise nachteilig auf ihre Experimentierfreude oder Aufgeschlossenheit aus: Urban Matchas schaffen es, sich ihre jugendliche Neugier zu bewahren.
Ein großer Freundeskreis ist ihnen wichtig und dient nicht selten als Familienersatz; aus der Vielfalt ihres Netzwerks beziehen Urban Matchas ihre Ideen und greifen neue Entwicklungen auf. Stillstand ist für sie ein Fremdwort, sie lieben den Trubel der Stadt und ihre ständige Veränderung. Dafür verzichten sie aber gerne an anderer Stelle auf Komplexität – Urban Matchas nutzen gerne Serviceangebote, die ihnen das Leben leichter machen: Etwa Lieferservices für Lebensmittel und Alltagsprodukte oder spezielle Abo-Boxen für Naturkosmetik, Craft-Whiskey und Superfoods.
Neo-Biedermeier
Der Lebensstil des Neo-Biedermeiers ist weitgehend ein Gegenentwurf zu den progressiven Lebensstilen des Modernen Nomaden und Urban Matchas – prägt die Märkte rund um Leben und Wohnen aber gerade deshalb entscheidend mit. Was ihn auszeichnet, ist die Rückbesinnung auf die Gemütlichkeit und Sicherheit des Hauses, die Idylle des Privaten und der traditionellen Familie als Dreh- und Angelpunkt der Lebensgestaltung. Diese Fokussierung speist sich teils aus einer Flucht vor dem Wandel: Aus der Angst vor den Herausforderungen der Globalisierung und im Speziellen aus dem zunehmenden Verlust der Privatsphäre in einer mehr und mehr digitalisierten Welt. Ähnlich wie das deutsche Bürgertum im 19. Jahrhundert, das sich in die scheinbare Sicherheit des Heimes zurück zog, um den politischen Restriktionen, gesellschaftlichen Turbulenzen und den Umwälzungen der Industrialisierung zu entgehen – die Epoche des Biedermeiers.
Der Lebensstil des Neo-Biedermeiers spiegelt sich auch in seinem Stilbewusstsein und damit im Konsumverhalten wider: Einfachheit, Funktionalität, klare Linien – die perfekte Gestaltung für das Private, bevorzugt unter der Verwendung von lokalen Materialien und einhergehend mit einer wachsenden Lust an der neuen Gemütlichkeit. Für die Einrichtung seines Zuhauses gibt der Neo-Biedermeier gerne etwas mehr Geld aus: Wertigkeit und Beständigkeit werden geschätzt, denn für die Familie und die engsten Freunde soll es nur das Beste sein. Dabei sieht er sich als Premiumkäufer, der sich an Einfachheit und Eleganz erfreut; bevorzugt greift er auf Markenprodukte zurück, da sie ihm die Sicherheit vermitteln, Qualität zu erwerben.
Dem Neo-Biedermeier ist es wichtig, dass das eigene Heim gemütlich und schön ist – die Themen Wohnen und Einrichten interessieren ihn sehr.
Dieses Mindset harmoniert besonders gut mit dem skandinavischen Lebensgefühl, das seit einigen Jahren auch im deutschsprachigen Raum Einzug hält: In Gestalt von Trends wie „Hygge“, das eine ur-dänische Lebensart beschreibt – im Wesentlichen das gemeinsame Genießen einer gemütlichen, herzlichen Atmosphäre mit Freunden und Familie. Aber auch „Lagom“, ein Begriff aus dem Schwedischen, der vor allem das „rechte Maß“ oder eine ausgewogene, positive Balance von Dingen beschreibt. Natürliche und traditionelle Materialien wie Holz und Stein, kontrastiert von Pastelltönen; dazu eine Tasse heißen Kakao mit Familie oder Freunden trinken, am besten vor dem Kamin: All das sind Elemente der skandinavischen Lebensart, die Sicherheit durch Stabilität und Geborgenheit durch Emotionalität vermitteln und daher vom Neo-Biedermeier gerne adaptiert werden. Auch die Rückbesinnung auf handwerkliche Erzeugnisse wird von ihm vorangetrieben – er schätzt das Echte und Zeitlose. Wenig Erfolg hat man dagegen, ihn für kurzlebige Hypes und Moden zu begeistern und auch in Bezug auf neue Technologien ist er eher zurückhaltend.