Grafik: Yvonne Winnefeld
Es gibt viel zu viele Lösungen für viel zu wenig echte Probleme. So könnte man die aktuelle Lage zuspitzen. In der Wirtschaft ist die Innovation als Selbstzweck zur Wettbewerbs-Pflicht geworden. Wer nicht innovativ ist, ist nicht vorne mit dabei. Der Innovations-Terror ist zur Mode geworden. Gefordert wird immer das Neueste vom Neuesten, das noch nie Dagewesene. Dabei verschiebt sich der Fokus vom wirklichen Problem, das zu lösen ist, auf das Neue als Selbstzweck. Innovation verliert dadurch ihren ureigenen Nutzen. Was entsteht, sind völlig neue Probleme: frustrierte Menschen, weil ihre Erfindungen nichts taugen; enttäuschte Manager, weil dem hundertsten Patent kein Produkt folgt; verrückte Kunden, weil sie sich schon wieder mit etwas Neuem herumschlagen müssen, nachdem sie nicht gefragt haben. Gepaart mit dem Geschwindigkeitswahn, dem wir leichtgläubig verfallen, führt das zu einem neuen Frust-Level in der Wirtschaft.
Wie aber gewinnt man wieder WERTVOLLES neues Wissen über die Welt und über etwas in der Welt? Wie kommt man zu Innovationen, die wir wirklich brauchen? Im Kern wird es in Zukunft um das Erlangen tiefer Einsicht und ERKENNTNIS gehen. Der Schlüssel für Innovationen liegt künftig in der PERCEPTION, dem erkennenden Wahrnehmen. Wir dürfen uns also langsam lösen von dieser lästigen Innovations-Pflicht und uns auf die Suche nach echten Erkenntnissen begeben. Auch wenn die aktuelle Entwicklung à la Design-Thinking darauf abzielt, schnell zu handeln und adaptiv zu reagieren, werden die großen Durchbrüche nur mit einem „Next Level Thinking“ zu erreichen sein, das in die Tiefe geht und sich mit der menschlichen Wahrnehmung und Interpretation seiner Umwelt im Grundsatz auseinandersetzt – und zwar jedes Mal aufs Neue.
Das „Next Level Thinking“ stellt zuallererst die Frage nach der Qualität und dem Sinn des bestehenden Wissens. Stimmen die Annahmen, die wir über die Menschen, die Wirtschaft, die Branche und das eigene Unternehmen haben? Dieses Denken ist Grundlage der Perception Driven Innovation als Methode, die nach innen – in die Tiefe – gerichtet ist und das Neue nicht sofort außerhalb sucht. Denn: Die Sucht nach dem Neuen hat vergessen lassen, dass Innovation auch etwas anderes bedeuten kann als die blinde Anreicherung von neuen Dingen – nämlich „Erneuerung, Veränderung“ (lat. innovare, zu lat. novare: neu machen). Um neues Wissen zu produzieren, muss nicht alles neu sein. Es kann auch heißen, bestehendes Wissen neu zu sortieren. Diese Art und Qualität von Innovationen kann entstehen, indem folgender methodischer Prozess durchlaufen wird:
Wie das funktioniert und zu was das führt, machen Unternehmen wie Google, IKEA, Coca-Cola und BMW Group vor: Sie haben die Glaubenssätze der bestehenden Wirtschaft in Frage gestellt und daraus eine neue Grundhaltung entwickelt zu dem, was Wirtschaft ist, kann und soll. Das Ergebnis ist eine Werteverschiebung hin zu einer Art des Wirtschaftens, die ethische Werte in den Vordergrund stellt; die Verantwortung übernimmt für problematisch gewordene Umweltschäden, wie sie das bisherige Wirtschaften verursacht hat: Die genannten Unternehmen sind gemeinsam mit anderen der Initiative RE100 beigetreten, deren Ziel es ist, zu 100 Prozent mit erneuerbaren Energien zu wirtschaften und gemeinsam den CO2-Ausstoß maßgeblich zu verringern.
Google geht mit anderen Teilnehmern noch weiter und hat sich in Partnerschaft mit der Ellen MacArthur Foundation einer Transformation der gesamten Ökonomie verschrieben, hin zu einer Ökonomie ohne Müll. Die Idee ist, nach den Cradle to Cradle-Maßgaben zu wirtschaften und eine Circular Economy mit geschlossenen Ressourcenkreisläufen zu etablieren, anstatt Produkte mit sackgassenartigen Ressourcenlebensläufen herzustellen und Müll anzuhäufen. Das ist echte Innovation auf einem höheren Qualitäts-Level. Ein Change im grundsätzlichen Mindset, der erst gewählt werden konnte, nachdem er sich unter den vielen verschiedenen Möglichkeiten, wie man Wirtschaft denken kann, herauskristallisiert hat. Die Ausrichtung der Unternehmen auf andere Grundwerte löst grundlegende Probleme und wird selbst wiederum zur Grundlage für konkrete Produkt- und Prozess-Innovationen – Folge-Innovationen, die die Welt wirklich braucht.
Damit ist diese erkenntnisorientierte Innovationsmethode eine Art Meta- und gleichzeitig Kern-Methode für Innovationsprozesse, die eine neue Qualität von Innovationen bringen und Innovationen auf eine höhere Stufe heben. In diesem Sinne kann der Erkenntnisprozess allen anderen Innovationsprozessen vorausgeschaltet werden, an ihn können sich die bekannten Innovationsmethoden „anlagern“.
Das sind nach Burnett (2009) zum Beispiel:
Wichtig zu verstehen ist: Perception Driven Innovation führt zu Erkenntnis – nicht zu Produkten. Diese Innovations-Methode ist nicht leistungs- und handlungsorientiert, sondern reflexiv nach innen gerichtet. Die Herangehensweise an eine Aufgabenstellung ist damit eine psychologisch-emotionale, die nur mit überzeugter, echter Offenheit für einen Perspektivwechsel und seine Konsequenzen zum Erfolg führen kann. Der Sinn darf nicht auf unmittelbare Notwendigkeit (Sachzwang) und Leistung gerichtet sein, sondern auf die Lust und die Freude auf eine neue, bessere Welt.
Hier offenbart sich die philosophische Dimension dieser Innovationsmethode, die künftig beim “Next Level Thinking” immer mehr mitzudenken ist: Wir leben in einer hochkomplexen und gleichzeitig zerfaserten Welt, in der unterschiedliche Entwürfe von Mensch, Kultur, Wirtschaft und Natur paradoxerweise nebeneinander existieren, obwohl diese Tatsache für unser Denken nicht mehr unter einen Hut zu kriegen ist. Wir müssen anerkennen, dass unsere Sicht darauf, wie Wirtschaft und wie Unternehmen funktionieren, nicht die einzige und vor allem nicht die allein gültige ist. Wissen ist keine Tatsache, sondern ein Produkt des Geistes und heute mehr denn je eine Glaubensfrage. Es gilt daher, flexibel darin zu werden, Glaubenssätze in Frage zu stellen und sich auf das „freie Rauschen der Möglichkeiten“ einzulassen, auf die achtsame Selbstbeobachtung beim Beobachten der Welt, ein De- und Reframing des Denkens in Richtung Perception.
Erst dann besteht eine echte Chance auf die Erkenntnis neuer Denkmuster und das Beseitigen blinder Flecken. Erst dann entsteht wirkliche Handlungsfähigkeit, die sinnvolle Innovationen hervorbringt. Mit dieser Meta- und Kern-Methode können wir zu einer neuen Qualität, einer neuen Größe und einer nachhaltigeren Wirksamkeit von Innovationen gelangen. Mit Perception Driven Innovation als – noch fertig zu entwickelnde – Methode können wir den Innovations-Terror hinter uns lassen und wieder echte Aha-Effekte und echte Erkenntnisse erleben.
Literatur: Burnett, Bill: Building New Knowledge and the Role of Synthesis in Innovation. In: International Journal of Innovation Science 1/2009.