Neugier-Kultur: Frischer Wind für Unternehmen
In einer Ökonomie der Neugierigen lernen Unternehmen voneinander und inspirieren sich zu Cross-Innovationen für neue Märkte.
Der rumänische Autor Emil M. Cioran fasste es in seinem Buch „The Trouble with being Born“ von 1973 treffend zusammen: „Bereichert werden wir nur durch Disziplinen, die unseren eigenen fernliegen.“ Etwas ausführlicher formuliert es Robert Gagposian, CEO des Konsortiums für Ocean Leadership, im Discovery Channel: „Ich würde vorschlagen: Neugier ist, über das alltägliche Denken hinauszudenken. Wenn Sie beispielsweise einen Berg erklimmen und dann einen Bergrücken sehen: Dann ist Neugier, wissen zu wollen, was hinter dem Bergkamm ist und wie ich dahin kommen kann. Wie wird es da aussehen? Wartet da etwas Unheimliches? Etwas Interessantes? Ich glaube, für mich ist Neugier die Aufgeregtheit jenseits meiner Alltagsgedanken.“
Neugier lässt Menschen jenseits ihrer bevorzugten Interessen und Tätigkeitsfelder blicken. Diese Neigung wird in einer Ökonomie, die zunehmend aus vernetzten Produkten und Dienstleistungen besteht, immer wichtiger. Die Erfindungen von morgen sind vernetzter Natur – Cross-Innovationen. Ein Beispiel hierfür ist der intelligente Medikamentenverschluss Glow Cap der amerikanischen Firma Vitality. Dieser ist durch eine „Plug-in Unit“ mit einer Datenbank verbunden, in der die Dosierung und Einnahmezeiten des jeweiligen Patienten verzeichnet sind – beispielsweise zwei Pillen am Tag, um 8 Uhr morgens und abends. Kurz vor 8 Uhr beginnt dann der Verschluss in sanften Orangetönen zu blinken, um den Patienten an die Einnahme zu erinnern. Wenn die Verpackung in den nächsten Minuten nicht geöffnet wird, wird das Blinken schneller. Noch ein paar Minuten später setzt dann eine Melodie ein. Wenn die Packung dann immer noch nicht geöffnet wird, erhält der Patient automatisch eine SMS oder einen Anruf. In einer Studie mit zwei Versuchsgruppen fiel die korrekte Medikamenteneinnahme bei jener, die nicht die Glow Caps nutzte, auf die üblichen 50 Prozent. Bei den Glow-Cap-Nutzern nahmen mehr als 80 Prozent ihre Medikamente verschreibungsgemäß ein.
Drei Phasen der Wissensgenerierung
Das Beispiel zeigt: Ein Produkt alleine – in diesem Fall die Arznei – führt nicht zur besten Lösung für den Anwender. Erst in Verbindung mit einem Informationsservice wird der größtmögliche Nutzen erzielt. Erst die Cross-Innovation führt zum besten Ergebnis. Für Arzneimittelhersteller bedeutet diese Erkenntnis, dass der Mehrwert ihres Angebots nicht mehr allein im Produkt, sondern in einem kombinierten Informationsservice liegt. Das wiederum bedeutet, dass sich die Pharmaindustrie mit Entwicklungen und Trends im Medien- und Telekommunikationsmarkt auseinandersetzen muss. Ein Unternehmen, das hierfür nicht die nötige Neugier aufbringt, entwickelt womöglich am Kundenbedürfnis vorbei oder wird von Wettbewerbern aus angrenzenden Branchen verdrängt. Der Integration von Wissen aus anderen Märkten in den eigenen Markt kommt zunehmend eine strategische Bedeutung zu, die über den Wettbewerbsvorsprung entscheidet.
Was sich im Kleinen in einzelnen Märkten zeigt, nämlich die Innovationsentwicklung durch das Prinzip der Vernetzung, lässt sich als generelles, aktuell prägendes Fortschrittsprinzip auf die Menschheit übertragen. Nach dem Stanford-Wissenschaftler Bill Burnett vollzieht sich die Wissensgenerierung im Verlauf der Menschheitsgeschichte in drei Phasen: Zu Beginn, etwa 20.000 vor Christus, war die Entdeckung das dominante Prinzip für das Neue. Um das Jahr 1800 herum, zur Zeit der Aufklärung, wurde es durch das Experiment abgelöst. Seit dem Jahr 2000 ist die Synthese das prägende Prinzip. Neues Wissen, neue Lösungen entstehen in erster Linie durch neue Verknüpfungen. Beispielhaft sind hierfür neue Wissenschaftsansätze wie die Bio-Informatik oder die Sozio-Ökonomie. Beispielhaft sind ebenso die prägenden Innovationen unserer Zeit, die vor allem Cross-Innovationen sind. An Erfindungen wie dem Smartphone wird dies allzu deutlich: digitale Allzweckhelfer für alle Lebenslagen – von der Sprach-Memo-Anwendung bis zum Navigations- und Banking-Tool.
Für die Innovationsarbeit im Unternehmen bedeutet das, den Radarschirm zu erweitern und Mitarbeiter dahingehend zu animieren, links und rechts von ihrer Branche zu gucken. Das Neue wird sich immer weniger aus einem bestehenden Markt heraus entwickeln, sondern aus völlig fremden Branchen. Doch obwohl es mittlerweile eine Grunderkenntnis der modernen Innovationsforschung ist, dass radikale Innovationen vor allem an den Schnittstellen von Branchen und Märkten entstehen, findet dieser Ansatz in der Praxis nur wenig Beachtung. Nach Schätzungen von Prof. Oliver Gassmann, Universität St. Gallen, beschäftigt sich nur eine kleine Minderheit der Unternehmen in Deutschland mit Entwicklungen aus anderen Branchen, um die eigenen Produkte und Arbeitsabläufe zu optimieren.
Warum bunte Hunde für Unternehmen so wichtig sind
Es ist eine allzu menschliche Eigenschaft, dass sich Menschen am liebsten mit ihresgleichen umgeben. Also mit Menschen, die ihnen besonders ähnlich und damit sympathisch sind. In der Wirtschaft führt dies häufig zu gefährlichen Monokulturen, die besonders risikoanfällig sind. Das Konzept des Diversity-Managements versucht dem entgegenzuwirken,indem die individuelle Verschiedenheit von Mitarbeitern nicht nur toleriert, sondern im Sinne einer positiven Wertschätzung positiv hervorgehoben und für den Unternehmenserfolg nutzbar gemacht wird. Deutlich wird dieser Ansatz in den Worten von Google-Nordeuropa-Chef Frank Kohl-Boas, der zudem einen weiteren Diversity-Zugang darstellt: „Wir stellen gerne Menschen mit ungeraden Lebensläufen ein, die Dinge ausprobiert haben. Denn wir wissen: Wenn diese Menschen nicht mehr für uns arbeiten wollen, dann gehen sie. So vermeiden wir Scheintote.“ Verknüpft ist dieser Ansatz mit Elementen wie freie Projektwahl, die explizite Aufforderung, die Kultur weiterzuentwickeln, sowie eine ausgeprägte Feedbackkultur.
Soziale Vielfalt im Unternehmen ist die Grundlage für ein funktionierendes Neugier-Management. Denn Unterschiedlichkeit führt zwangsläufig zu verschiedenen Herangehensweisen, was wiederum Fragen – und zwar Neugier-Fragen – provoziert: Warum werden die Dinge so gemacht, wie sie gemacht werden?
Derlei positive Irritationen lassen sich zum einen durch Diversity hinsichtlich Geschlecht, Herkunft und Alter erzielen. Zum anderen lässt sich ein Mehr an Vielfalt durch die bewusste Rekrutierung von Mitarbeiten aus fremden Branchen realisieren. So stellten in der jüngeren Vergangenheit vor allem die großen Autokonzerne gezielt Manager aus der Modebranche ein, um mit deren Erfahrungshintergrund Erfolgsprinzipien aus der Fashion-Industrie zu adaptieren: Wie emotionalisiert man eine Marke? Welche neuen Formen der Produktinszenierung gibt es? Wie schafft man mediale Aufmerksamkeit? Branchenfremde bringen einen unverbrauchten Blicke auf eine für sie neue Industrie mit.
Die bunten Hunde, die für ein Unternehmen so wichtig sind, um die Diversity zu erhöhen, müssen auf den ersten Blick gar nicht so schillernd sein. Besondere Talente, andere Perspektiven, neugierige Menschen verbergen sich zuweilen dort, wo man gewöhnlich nicht nach ihnen sucht. So haben sicher die wenigsten Personaler Autisten im Kopf, wenn es um die Fachkräfte von morgen geht. Doch Autisten verfügen über großartige analytische Fähigkeiten, die sie für Aufgaben im Informatikbereich qualifizieren. Mit dem dänischen Unternehmen Specialisterne gibt es eine Personalvermittlung, die weltweit Autisten zu marktgängigen Gehältern in IT-Jobs vermittelt.
Der Walldorfer Softwarekonzern SAP arbeitet mit Specialisterne zusammen und will bis 2020 weltweit 650 Autisten als Softwaretester, Programmierer und Spezialisten für Datenqualitätssicherung einstellen. Die ersten Erfahrungen mit diesen besonders begabten Mitarbeitern sind durchweg positiv. Autisten bringen eine Eigenschaft mit, die mit der Neugier eng verknüpft ist: das Dranbleiben an einer Aufgabe und deren gewissenhafte Erledigung.