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Neo-Biedermeier: Zurück zur Alltäglichkeit

Digitalisierung und Datenskandale verstärken den Wunsch nach Privatsphäre - und sorgen für eine Renaissance des nostalgischen Rückzugs ins eigene Heim.
Neo-Biedermeier

Schon seit einiger Zeit spukt der Begriff des Neo-Biedermeier durch die Köpfe der Journalisten. In zahlreichen Veröffentlichungen wird der momentane Trend in unserer Gesellschaft mit dem Kulturphänomen des Biedermeier im 19. Jahrhundert verglichen. In der damaligen Zeit gab es einen Rückzug des deutschen Bürgertums in die scheinbare Sicherheit des Heimes, um den politischen Restriktionen, gesellschaftlichen Turbulenzen und den Umwälzungen der Industrialisierung zu entgehen.

Die heutige Rückbesinnung auf die Gemütlichkeit des Hauses, die Idylle des Privaten speist sich unter anderem aus der Angst vor den Herausforderungen der Globalisierung und im Speziellen aus dem Verlust der Privatsphäre in einer digitalisierten Welt. Die Vergleiche zwischen Biedermeier und Neo-Biedermeier werden bisher meist politisch und gesellschaftlich gedacht. Aber Die perfekte Gestaltung des Privaten: einfach, funktional, klar - unter Verwendung lokaler Materialien auch die Konsumenten wurden als Teilnehmer am Neo-Biedermeier identifiziert, selbst in Bereichen der Immobilienwirtschaft können wir dieselben Trends beobachten.

Dabei geht es allerdings weniger um eine formale Wiedergeburt der gestalterischen Elemente wie dorischer Pilaster oder eines klassizistischen Dekorationskanons. Vielmehr erkennt man eine Neuauflage der Grundsätze der Ästhetik des Biedermeier: Es sollte einfach sein, funktional, mit klaren Linien, die perfekte Gestaltung für das Private, bevorzugt unter der Verwendung von lokalen Materialien. Dieser Rückzug ins Heim geht einher mit einer wachsenden Lust auf die neue Gemütlichkeit.

My home is my castle

Im Biedermeier des 19. Jahrhunderts handelte es sich um einen Rückzug in die Häuslichkeit als Reaktion auf das Ende der Napoleonischen Ära und die staatlichen Repressionen unter Fürst Metternich. Auch heute führen Globalisierung, NSA-Skandal, Kriege und Flüchtlingsmigrationen zu einer zunehmenden Frustration über die politischen Strukturen. Die dadurch genährte Furcht vor der Geschwindigkeit des Lebens, der Ohnmacht gegenüber globalen Dynamiken und vor dem Verlust unserer Privatsphäre aufgrund der Digitalisierung der Welt führt zu einer Flucht in das Bewährte, das Kontrollierbare – das private Zuhause.

Traditionell ist ein großer Bestandteil des Lebens in der Stadt das zufällige Kennenlernen von Fremdem, im Guten wie im Schlechten. Der Großstadtmensch war bisher ein Individualist. Als Gegenreaktion Anstatt im anonymen Mehrfamilienhaus mit Fremden zu leben, baut man das Haus gemeinsam mit der Wahlfamilie dazu, teilweise aus Furcht vor dem Neuen, teilweise aus dem Wunsch nach einer neuen Form von Familie, sehen wir jetzt eine Verstärkung der Gruppenbildung. Die immer stärker inszenierte Dörflichkeit des Kiezes in der Stadt stellt die Geborgenheit in der Anonymität wieder her, die Patchwork-Kommune repariert das verlorene Familiengefühl der Großstadtbeziehungen.

Aus diesen Aspekten entsteht im Immobiliensektor ein neuer Trend zur Gemeinschaftsinvestition – der Trend zur Baugruppe. Anstatt im anonymen Mehrfamilienhaus mit Fremden zu leben, baut man das Haus gemeinsam mit der Wahlfamilie. Nicht nur finanziell versucht man so die Vorteile von Gemeinschaft zu erleben: Das Bauprojekt der individualisierten Großstadtdeutschen ist das gemütliche Gruppenheim. 2013 wurden in den ersten neun Monaten 202.100 Wohnungsneubauten genehmigt. Damit ist die Zahl der Baugenehmigungen um 13,5 Prozent gestiegen. Besonders stark wuchs demnach die Zahl der genehmigten Neubauwohnungen in Mehrfamilienhäusern (plus 25,1 Prozent). Auch Doppelhäuser werden in immer größerer Zahl gebaut (plus 14,2 Prozent). Der Bau gewerblicher Gebäude und von Verwaltungsbauten ging hingegen leicht zurück. (Statistisches Bundesamt)

In den Kernlagen der Städte wurde dabei eine wachsende Zahl dieser neuen Bauprojekte finanziert durch den Zusammenschluss von Käufern, die vorher an den zu hohen Einstiegsbarrieren als Individuum gescheitert waren. Die Wohngruppe ist für diese neue Käuferschicht nicht nur finanziell der schnellste Weg zum Traum vom Eigenheim, sondern erlaubt auch, die soziale Wärme der neugeschaffenen Großfamilie zu erleben.

In-House-Konsum

Eine neue Erfindung des Biedermeier war die Entwicklung der Kammermusik. Anstatt die neu entstandenen Lieder in der Oper oder im Konzertsaal, somit in der Öffentlichkeit zu genießen, konnte man sich an der Musik im Kreise von Freunden und Familie zu Hause erfreuen. Einen ähnlichen Rückzug aus dem öffentlichen Raum beobachten wir auch heute: Statt ins Kino zu gehen, werden Filme digital erworben und zu Hause mit 3D-Brille gesehen, statt Konzerten besucht man den Online-Store. Konsumenten wollen das Erlebnis von Kultur und Entertainment immer mehr im kleinen, vertrauten Kreis der Freunde zelebrieren, ohne sich den Anforderungen der Öffentlichkeit auszusetzen.

Aber auch andere Bereiche des Lebens werden zunehmend von zu Hause aus erledigt. Home-Office, Online-Gaming und Home-Shopping sind Trends der letzten Es wird zunehmend wichtig, über die inneren Strukturen der Wohngebäude nachzudenken Jahre, denen aufgrund der Beschleunigung der digitalen Möglichkeiten auch weiterhin stabile Wachstumsraten vorhergesagt werden. Das Phänomen der Öffentlichkeit im 20. Jahrhundert wird im 21. Jahrhundert durch die technologischen Möglichkeiten in das Zuhause geholt – denn zu Hause ist es doch am schönsten. Dabei werden die Early Adopters des Netzes mittlerweile zur Mid-Age-Konsumentengruppe, die ihre Netzaffinitäten in diese Milieusparte mitbringt. Innovative Online-Präsenz und service-orientierte Logistikstrategien, die „Comfortability“ großschreiben, zeichnen die Marktführer aus, die diese Nachfrage bedienen. Um die schnelle Auslieferung zu ermöglichen und Logistikstrukturen zu optimieren, erforscht beispielsweise Amazon schon heute die zukünftige Auslieferung kleiner Pakete mit Drohnen.

Verstärkt durch die rasante Entwicklung immer höherer Preise für gute Lagen in den Städten, gibt es Chancen durch ein Umdenken in der Planung des Wachstumsmarktes Eigenheim. Es wird zunehmend wichtig, über die inneren Strukturen der Wohngebäude nachzudenken. Die Gebäude müssen für den Rückzug in die Wahlfamilie funktionieren, wobei es nicht nur um die individuelle Wohnung geht, sondern auch um gemeinschaftliche Organisationsphänomene bei Erstellung und Benutzung des Hauses. Finanzierer, Entwickler, Planer und andere Dienstleister fangen an, sich mit Spezialprodukten diesem Trend zu öffnen.

Dokumentation

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