Die Bauindustrie gilt als eine der Hauptverantwortlichen der globalen Erderwärmung. Doch was wäre, wenn wir Bauen nicht nur als Problem, sondern auch als Teil der Lösung betrachten? Wir erreichen einen Wendepunkt: Für Baugewerbe und Architektur ist der Tag der „Emissionsabrechnung“ gekommen. Es ist eine große Herausforderung, die Bauindustrie nachhaltiger und zukunftsfähiger zu gestalten. Inzwischen gibt es einige Innovationen und positive Entwicklungen in verschiedenen Bereichen der Baubranche, die Circular Building voranbringen. Vom Konstruktions- bis zum Abrissprozess werden die Prinzipien der Kreislaufwirtschaft immer öfter auch in der Bauindustrie eingesetzt.
Eine der größten Herausforderungen in der Baubranche ist der Umgang mit all den Gebäuden und Konstruktionen, die bereits gebaut sind. Ein Gebäude kann nur dann ökologisch und ökonomisch abgerissen und demontiert werden, wenn man es auch recycelbar gebaut hat – wie es in der Cradle-to-Cradle-Wirtschaft und im Cradle-to-Cradle-System der Fall ist. Ein Beispiel für ein Design, das so gebaut wurde, dass es einfach wieder demontiert werden kann, ist das Braunstein Taphouse in Dänemark. Das aus Holz bestehende Mikrobrauerei-Café, das gleichzeitig als Veranstaltungsraum und Besucherzentrum dient, wurde von Adept Architects für eine begrenzte Lebensdauer entworfen und nur mit mechanischen Verbindungselementen und ohne Malerarbeiten gebaut, um das Recycling zu erleichtern.
Während die Recycelbarkeit ganzer Gebäude die langfristige Vision und das Ziel vieler Neubauprojekte ist, sind kurzfristige Lösungen wie das Recycling von Beton und anderen Materialien, die für den Bau genutzt werden, dringlicher. Unternehmen wie der Baumaschinenhersteller Rubble Master sind beim Betonrecycling ihrer Zeit weit voraus – bereits vor 25 Jahren schufen sie mit kompakten, mobilen Brechanlagen einen neuen Markt für Betonrecycling. Bau- und Abrissabfälle werden vor Ort auf der Baustelle zerkleinert und dann zum Auffüllen von Kellergruben oder Gräbern, für Bodenbeläge oder für das Ebnen von unebenem Gelände oder beim Straßenbau wiederverwendet. Dadurch werden nicht nur Materialien und Abfall eingespart, sondern auch Geld, denn der Abtransport von Abrissmaterial ist relativ teuer. Die Maschinen von Rubble Master sind außerdem dieselelektrisch oder vollelektrisch – das Unternehmen hat schon früh die Notwendigkeit erkannt, die Emissionen auf den Baustellen zu reduzieren.
Bei Rubble Master geht es allerdings oft nur um das „Downcycling“ von Materialien: Ein altes Haus wird zum Beispiel dazu verwendet, um daraus ein Fundament für ein neues zu kreieren. Eine Initiative in Salzburg versucht dagegen, noch eins draufzusetzen und aus einem alten Haus ein komplett neues zu bauen. Roland Wernik, Geschäftsführer von Salzburg Wohnbau und Gründer des Betonrecycling-Projekts, spricht sich für Rückbau statt Abriss aus und fordert mehr Anerkennung für alte Gebäude, die als wichtige Ressourcenquelle in der aktuellen Situation dienen können. Das Ziel der neu gegründeten Initiative CICO – Circle Concrete ist, dass der beim Rückbau von Gebäuden wiedergewonnene Altbeton erneut für die Herstellung von Beton mit möglichst hoher Qualität zum Einsatz kommt.
Die Schweiz ist ein Vorbild in Sachen Recyclingbeton: Dort wird im Hochbau schätzungsweise bereits etwa zu 25 Prozent Recyclingbeton eingesetzt. Das kommt daher, dass die Gesteinskörnungen in der Schweiz knapper und teurer sind – deshalb ist auch der wirtschaftliche Druck größer, auf Recyclingbeton zurückzugreifen. Tatsächlich ist es aber auch eine Frage des Mindsets: Viele Architekten, Bauherren und Planerinnen zeigen sich noch zurückhaltend gegenüber dem Einsatz von Recyclingbeton. Hinterfragt werden vor allem die Festigkeit und Dauerhaftigkeit – doch inzwischen gibt es zahlreiche Normen, die sicherstellen, dass das recycelte Material den Anforderungen entspricht.
Baustellen sind nicht gerade für ihre Eleganz oder Sauberkeit bekannt. Außerdem fällt oft eine große Menge Bauabfall an, wie etwa Dämmmaterial, das für gewöhnlich in den allgemeinen Bau-Müllhaufen geworfen wird. Das Dämmstoffunternehmen Austrotherm kündigte im März 2021 die kostenlose Abholung von sauberen Materialresten auf Baustellen an.
Abfallstoffe aus dem Bau sind das Spezialgebiet von Dirk Hebel, der neben seiner Tätigkeit als Architekt auch Dekan der Fakultät für Architektur am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) ist und dort die Professur Entwerfen und Nachhaltiges Bauen innehat. Hebel sieht Städte als ein riesiges Materialreservoir für die Bauindustrie. Die Rückgewinnung von Materialien durch Urban Mining ist ein großer Schritt in Richtung Circular Building. Um zu zeigen, dass es schon heute möglich ist, nach den Prinzipien der Kreislaufwirtschaft zu planen und zu bauen, haben Hebels Studierende 2019 einen kreisförmigen Glaspavillon aus recyceltem Glas errichtet. Zum einen nutzt der Pavillon die vorhandene Urban Mine: Alle im Projekt verwendeten Materialien haben bereits mindestens einen Lebenszyklus durchlaufen, entweder in gleicher oder in einer anderen Form.
Einer der Vordenker der Kreislaufwirtschaft im Bauwesen ist der Architekt Thomas Rau. Rau hält nicht am Recycling im klassischen Sinne fest, sondern spricht von einer Rückgewinnung von Ressourcen. Jede Ressource sollte in seinen Augen als „Limited Edition“ betrachtet werden. Als Gründer von Madaster, einem Online-Rohstoffregister, entwickelte Rau das Modell Turntoo. Er betrachtet Gebäude als Materiallagerstätten: Die Baumaterialien werden in den Gebäuden nur temporär gelagert und später weiterverwendet.
Dahinter steht die Idee, dass Konsumenten wie Bauherrinnen oder Entwickler keine Produkte, sondern Dienstleistungen kaufen, weshalb auch die Hersteller daran interessiert sind, dass ihre Produkte einen möglichst langen Lebenszyklus haben. Mit dem Bau der Triodos Bank im niederländischen Dreibergen-Rijsenburg wurden seine Ideen in die Praxis umgesetzt. Alle Materialien werden bis ins kleinste Detail in einem Rohstoffpass erfasst – bis hin zu den 165.312 Schrauben! Rau glaubt, dass Veränderungen im Sinne der Kreislaufwirtschaft nur dann funktionieren, wenn es einen finanziellen Nutzen bringt – der gute Wille allein reicht nicht, um langfristige Veränderungen anzustoßen. Die Triodos Bank ist deshalb das erste Gebäude der Welt, das seinen Materialwert als Vermögenswert in die Bilanz aufnimmt.
Das Design- und Architekturkollektiv They Feed off Buildings (TFOB) aus Berlin will entsorgten architektonischen Resten neues Leben einhauchen. So wie jedes Gebäude seine eigene, einzigartige architektonische Identität besitzt, entstehen die Materialien von TFOB auf Grundlage der in bestimmten Regionen oder Bauprojekten vorhandenen Materialien. Das TFOB-Team des Projekts Urban Terrazzo reist durch verschiedene Städte, um die Verwendung von verfügbarem Material aus architektonischem Abriss zu erforschen. In Berlin sichten sie vor allem Beton. Extrem bunten Beton. „Wenn man den aufschneidet, hat er eine sehr schöne Färbung, weil ja viel Nachkriegsschutt in Berlin verbaut wurde“, sagt Co-Gründerin Rasa Weber. Mehr als 200 Millionen Tonnen mineralischer Bauabfälle fallen pro Jahr in Deutschland an – They Feed off Buildings haucht einem kleinen Teil davon neues Leben ein.
Kreislauforientiertes Bauen bedeutet, den gesamten Bauprozess zu überdenken – von der beliebter werdenden Off-Site-Bauweise und Modulbauweise bis hin zu den Maschinen, die auf der Baustelle verwendet werden. Aus diesem Grund hat die Stadt Oslo kühn angekündigt, dass bis 2025 alle Baustellen in der Stadt kohlenstofffrei sein werden. Nach dem Erfolg der ersten städtischen Null-Emissions-Baustelle erwartet die Stadt nun, dass etwa bei zehn bis 20 weiteren neuen Bauprojekten im Jahr 2021 schwere Null-Emissions-Geräte wie Bagger, Radlader, Lkw und Bohrgeräte auf der Baustelle eingesetzt werden.
Baumaschinenhersteller wie Rubble Master haben bereits damit begonnen, vermehrt elektrische Maschinen zu produzieren. Ein weiterer Boost für die Zukunft des zirkulären Bauens ist die Erklärung der Cities Climate Leadership Group (C40). Die sogenannte Clean Construction Declaration beinhaltet unter anderem die Verpflichtung, die Emissionen auf Baustellen drastisch zu reduzieren. Außerdem sollen ab 2025 nur noch emissionsfreie Baumaschinen beschafft und nach Möglichkeit eingesetzt werden. Derzeit haben rund 40 Städte auf der ganzen Welt die Erklärung unterzeichnet, darunter Oslo, Budapest und sogar Großstädte außerhalb Europas wie Los Angeles und Mexiko-Stadt.
Es gibt viele Bewegungen und Projekte, die auf eine umfassende Kreislaufwirtschaft abzielen. Sie werden zum Teil durch die Klimaziele, die Auswirkungen der Pandemie, oder auch zunehmend von Banken und Investoren vorangetrieben und unterstützt. „Die ökologischen Vorteile aus Cradle to Cradle lassen sich auch ökonomisch abbilden. Dies erfordert jedoch auch bei Banken und Investoren ein vertieftes Verständnis für C2C-Prinzipien“, so Stefanie Voit, Wirtschaftsprüferin, Steuerberaterin und geschäftsführende Gesellschafterin von TS.advisory GbR.
So gibt es auch immer mehr Wettbewerbe, etwa den Deutschen Nachhaltigkeitspreis, die Circular Building vorantreiben und dem Thema Aufmerksamkeit verschaffen. Die beiden Gewinner des renommierten Pritzker-Preises für Architektur 2021, Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal, gehen mit ihren Werken einen Schritt in die richtige Richtung, was das zirkuläre Bauen angeht. Das bodenständige Paar verfolgt eine einzigartige und mutige „Niemals abreißen“-Strategie. Sie sind bekannt für die Umwandlung und Wiederbelebung vernachlässigter Gebäude in ganz Frankreich.
Auch wenn renommierte Architekturbüros wie BIG Architects oft die Aufmerksamkeit von kleineren Unternehmen ablenken, die in ihrem Bereich oder Kompetenzfeld einen wichtigen Beitrag zum zirkulären Wirtschaften und Bauen leisten, ist dennoch erkennbar, dass es bereits viele verschiedene Möglichkeiten der Kreislaufwirtschaft in der Bauindustrie gibt. Die Kreisläufe können dabei viele verschiedene Größen einnehmen. Doch alle sind nachhaltig und hilfreich.
Jeder Aspekt des Bauprozesses wird derzeit unter die Lupe genommen – nicht nur die Wiederverwertbarkeit von Baumaterialien oder der ökologische Fußabdruck des Bauprozesses, sondern auch die Abfälle, die während des Bauens anfallen, und sogar die Emissionen der Maschinen, die auf der Baustelle zum Einsatz kommen.
Ein vollständig kreislauforientierter Ansatz ist momentan noch ein mutiger, aber teurer Schritt, weshalb sich viele Planer und Architektinnen derzeit viel eher darauf konzentrieren, den CO2-Fußabdruck des Bauprozesses zu reduzieren. Um „schmutzige Gebäude“, die übermäßig viel CO2 emittieren, auf lange Sicht effektiv zu verhindern, ist und bleibt es notwendig, staatliche Regulierungen und zielgerichtete Subventionen einzuführen.