Unsere Gesellschaft befindet sich im Daueralarm. Eine Krise jagt die nächste und auch die Corona-Pandemie hat unmissverständlich klargemacht, dass unser Leben auf diesem Planeten im Kern unsicher und fragil ist. Sicherheit wird dadurch mehr denn je zum obersten Gebot für Individuen wie für die gesamte Gesellschaft – und zu einem wichtigen Verkaufsargument. Immer mehr rückt die Frage ins Zentrum, wer Sicherheit überhaupt erzeugen kann und sollte. Und: wie wir konstruktiv mit Unsicherheit umgehen können.
Risiken sind im 21. Jahrhundert komplex und dynamisch geworden. Sicherheit ist keine Selbstverständlichkeit und kein fixer Zustand, der „hergestellt“ werden kann, sondern eine Variable, die ständig neu ausgehandelt und aufgebaut werden muss. Die Frage, was Sicherheit bedeutet und wer sie verantwortet, erhält damit eine neue Dringlichkeit: Unser gesamtes Verständnis von Sicherheit steht auf dem Prüfstand – und erfordert künftig vor allem neue Strategien im Umgang mit Risiken und Unsicherheit.
Um zu verstehen, was Sicherheit heute und in Zukunft bedeutet, hilft ein Blick auf die Evolution unseres Sicherheitsverständnisses, das sich in den vergangenen Jahrzehnten grundlegend gewandelt hat. So wird die Unterscheidung von innerer und äußerer Sicherheit, die im Zuge der Staatenbildung entstand, tendenziell wieder aufgehoben. Zudem haben sich zahlreiche neue Gefahren und Herausforderungen herausgebildet, die die Sicherheit des Staates, der Gesellschaft oder der Bürger und Bürgerinnen beeinträchtigen und die Bedeutung von Sicherheit sukzessive erweitern.
Die Benennung der Top-Risiken durch Sicherheitsexperten zeigt etwa, welche Themen über die Jahre als besonders relevant für Sicherheit und Stabilität gesehen werden. Schätzten Sicherheitsexperten vor einigen Jahren noch ökonomische Risiken als Top-Risiken ein, sind nun zunehmend ökologische Risiken wie extremes Wetter, Naturkatastrophen, der Verlust der Biodiversität oder menschengemachte Umweltkatastrophen an der Spitze. Themen rund um die Klimakrise gelten aktuell als die größte Bedrohung für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft.
Insgesamt werden heute viel mehr Probleme als sicherheitsrelevant angesehen als früher. Diese Erweiterung des Sicherheitsbegriffs hat die Verantwortung für Sicherheit bereits signifikant verschoben: vom Staat hin zur Gesellschaft und zum Individuum; von militärischer zu ökonomischer, ökologischer und humanitärer Sicherheit; von nationaler zu regionaler, internationaler und globaler Sicherheit. Und, vielleicht die weitreichendste Veränderung: von akuter Bedrohung hin zu Verwundbarkeit und Risiko.
Dass uns die Welt trotzdem so gewalttätig und gefährlich vorkommt, hat vor allem mit dem Zusammenspiel von menschlicher Kognition, Unterhaltungsindustrie und Journalismus zu tun, wie etwa Psychologe Steven Pinker erklärt. Menschen schätzen demzufolge Risiken und Wahrscheinlichkeiten anhand von Einzelberichten, Erzählungen und Bildern ein, und die Medienberichterstattung, insbesondere in Boulevardpresse und sozialen Medien, fokussiert auf plötzliche, meist negative Einzelereignisse. Über Terroranschläge, Kampfhandlungen oder Epidemien wird eher und intensiver berichtet als über positive Entwicklungen, die sich meist nur nach und nach entfalten. So wird unser gefühltes Sicherheitsempfinden beeinflusst.
Eine Folge davon: Menschen geben immer mehr Geld für ihre Sicherheit aus. Kein Wunder, dass sich beispielsweise die Deutschen vermehrt versichern, denn Versicherungen vermitteln Sicherheit. Für viele Sorgen, die die Deutschen haben, wie zum Beispiel Pflegebedürftigkeit im Alter, Altersarmut oder Einkommensverlust, lebensbedrohliche Krankheiten oder Diebstahl, gibt es auch eine passende Versicherung, die dem Bedürfnis nach einem größeren Sicherheitsempfinden begegnet.
War der Megatrend Sicherheit in den vergangenen Jahren vor allem von digitalen Bedrohungen geprägt, ist er durch Corona wieder ganz nah beim Menschen gelandet. Der neue Fokus auf die unsichtbare Gefahr der Biologie zeigte sich allerdings bereits vor der Corona-Pandemie, etwa im Trend Germophobia. Die Angst vor Keimen prägt unsere Beziehung zu Bakterien, Pilzen und Viren wie nie zuvor und erschafft neue Märkte, etwa für Desinfektionswaschmittel, Immun-Booster oder innovative Reinigungsmethoden für die schlimmste Keimschleuder des Alltags: das Mobiltelefon.
Das Spektrum der berührungslosen Technologien – Tochless Tech – reicht vom digitalen Hygienemanagement, etwa der UV-Bestrahlung von Rolltreppenläufen, bis zur Ermöglichung kontaktloser Interaktionen, etwa beim bargeldlosen Bezahlen. Die Angebote und Einsatzmöglichkeiten von Touchless Tech, nicht zuletzt durch Gestensteuerung oder Stimm- und Gesichtserkennung, werden in einer zunehmend hypervernetzten Welt weiter wachsen.
Der Megatrend Sicherheit ist also untrennbar verbunden mit der zunehmenden Vernetzung unserer Welt, zumal auch die umfassende Digitalisierung all unserer Lebensbereiche deutlich macht, dass Gefahren und Risiken nicht vor Landesgrenzen haltmachen. Im Internet of Things ist alles miteinander vernetzt, die immer feinmaschigere Interaktion zwischen digitalen Systemen umfasst alle denkbaren Geräte und sogenannten cyberphysischen Systeme, von Computern und Wearables über Fahrzeuge und medizinische Apparaturen bis hin zu ganzen Gebäuden oder Industrieanlagen.
Je mehr digital angebundene Geräte ein Netzwerk umfasst, umso größer wird auch die Angriffsfläche für Cybercrime, sei es in Smart Homes oder in Unternehmen. Hacker-Angriffe sind damit auch eine Gefahr für die Digital Reputation, für den Ruf und das Ansehen von Menschen, Unternehmen und Marken im digitalen Raum, insbesondere in sozialen Netzwerken.
Privatsphäre und Datenschutz sind insbesondere in Europa ein hohes Gut – und damit auch ein elementares Sicherheitsthema. Zugleich befindet sich aber auch unser Verständnis von Privacy inmitten eines Wandels: Immer weniger ist Privatsphäre eine Grundvoraussetzung, die Nutzerinnen und Nutzer erwarten können, sondern etwas, das sie aktiv erzeugen müssen. Als technische On-off-Option setzt Privacy damit auch neue Kompetenzen voraus, von der Kontrolle der eingesetzten Technologien bis zu der Fähigkeit, Situationen und Möglichkeiten der Informationsverbreitung richtig einzuschätzen. Vor allem aus Sicht der Nutzenden gewinnt damit das Thema Digital Literacy stark an Bedeutung: eine „digitale Alphabetisierung“, die einen souveränen und selbstbewussten Umgang mit den Herausforderungen der Digitalität fördert – und damit auch eine Selbstermächtigung der Nutzer vorantreibt, die das Risiko von Cyberattacken minimiert.
Die hohe Komplexität der unterschiedlichen Datenschutzbestimmungen schränkt die Souveränität der User heute noch ein – und mindert damit auch die Wirksamkeit von Regelungen wie der Europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO), die vom Ideal eines mündigen und kritischen Bürgers ausgeht. Künftig werden daher zunehmend einfache und standardisierte Lösungen erforderlich sein. Die Ausbildung einer „Datenkompetenz“ ist etwa auch die Grundvoraussetzung für einen zukunftsweisenden Umgang mit Big Data.
Die Auswertung und Weiterverarbeitung von Big Data erfordert nicht nur neue technische Tools, sondern auch ein neues Daten-Mindset, eine neue Achtsamkeit im Umgang mit sensiblen Daten. Denn die Preisgabe von Daten ist an eine zentrale Voraussetzung geknüpft: ein hinreichendes Sicherheitsgefühl. Mit zunehmender Vernetzung gewinnt damit auch das Thema Vertrauen an Relevanz für die Nutzung digitaler Services und Geräte.
Die Akzeptanz von Big Data steigt vor allem dann, wenn es um die Abwendung von Gefahren geht. So kann das Sammeln großer Datenmengen in Verbindung mit Künstlicher Intelligenz (KI) auch neue Sicherheiten gewährleisten, etwa durch Predictive Analytics.
Die Fortschritte in diesem Bereich werden künftig immer präzisere Ableitungen aus gesammelten Daten ermöglichen. Damit wird auch das Predictive Policing voranschreiten, die Vorhersage von Straftaten anhand historischer Daten. Über die Musteranalyse vergangener Taten lässt sich so etwa die Wahrscheinlichkeit einschätzen, mit der in einer bestimmten Region ein Einbruch geschehen wird. Eine zentrale Rolle spielen Predictive Analytics damit etwa für Smart Citys.
Im Bereich der Mobilität bringt die Vernetzung ebenfalls große Sicherheitspotenziale mit sich. Insbesondere das autonome Fahren verspricht eine enorme Verbesserung der urbanen Verkehrssicherheit. Immerhin spielt menschliches Versagen bei bis zu 95 Prozent aller Verkehrsunfälle eine Rolle – bis 2038 könnten verpflichtende Sicherheitstechnologien mehr als 25.000 Menschenleben retten und mindestens 140.000 schwere Verletzungen vermeiden. Indem innovative Car-to-Car-Kommunikation menschliches Versagen zum großen Teil bedeutungslos macht, rückt mit dem autonomen Fahren auch die „Vision Zero“ näher: eine Mobilität ohne Verkehrstote.
Im Gesundheitsbereich, wird die Möglichkeit, durch das Sammeln und Analysieren von Gesundheitsdaten Krankheitsrisiken vorherzusagen, den gesamten Digital-Health-Bereich künftig stark wachsen lassen. Davon profitiert etwa der Trend zum Self-Tracking.
Was motiviert Menschen, persönliche Daten an digitale Dienste zu übermitteln, deren Mechanismen und Datenschutzregelungen sie nicht durchschauen? Entscheidend ist eine User Experience, bei der die Nutzungsvorteile die Nachteile möglicher Sicherheitsrisiken übersteigen. Je „gläserner“ der Mensch wird, umso wichtiger werden daher auch technologische Anwendungen und Entwicklungen, die das Simplexity-Prinzip auf die Dimensionen Transparenz, Vertrauen und Sicherheit ausdehnen. Damit wird künftig der Trend zur Trust Technology weiter an Fahrt aufnehmen.
Transparenz stellt einen entscheidenden Hebel dar, um das Vertrauen von Kundinnen und Kunden zu gewinnen. Besonders deutlich zeigt sich das bereits im Kontext des Megatrends Neo-Ökologie: Konsumierende wollen sich sicher sein, woher Produkte stammen und wie und von wem sie gefertigt wurden – diese Informationen werden damit zu wichtigen Kaufargumenten. Technologien wie die Blockchain – die als kaum manipulierbar gilt – könnten dieses Bedürfnis nach Transparenz und Sicherheit künftig bedienen. Ähnliches gilt für Cryptocurrencies, die auf der Blockchain-Technologie aufbauen: Über die kryptografische Verschlüsselung können digitale Zahlungsmittel neue Sicherheitsstandards gewährleisten. Die Blockchain wird damit zu einem mächtigen technologischen Hebel im Kontext des Megatrends Sicherheit.
Sicherheit wird systemisch
Die vielfältigen Verflechtungen mit den Megatrends Konnektivität, Mobilität, Urbanisierung, Gesundheit, Wissenskultur etc. machen deutlich: Sicherheit beruht in einer vernetzten Welt zunehmend auf einem neuen Verständnis für das Zusammenwirken aller beteiligten Elemente. Dies erfordert ein systemisches Verständnis von Sicherheit – und neue Strategien im Umgang mit Unsicherheit. Dass insbesondere Unternehmen Sicherheit künftig systemisch verstehen müssen, verdeutlicht bereits der Trend in Richtung Business Ecosystems. Der Vorteil dieser Systeme ist ihre erhöhte Adaptivität gegenüber den Risiken einer volatilen Welt.
Der große Shift von Effizienz hin zu Resilienz, der die gesamte Sinn-Ökonomie prägt, rückt automatisch neue Fähigkeiten im Umgang mit Risiken und Unsicherheit in den Fokus. Dazu zählt eine Ambiguitätstoleranz – die Fähigkeit, mehrdeutige Situationen und widersprüchliche Handlungsweisen zu ertragen – ebenso wie eine generelle Unsicherheitskompetenz, die bei der konstruktiven Bewältigung von Veränderungen und Umbrüchen hilft. Wegweisend wird ein flexibles, „unsicherheitsaffines“ Verständnis von Sicherheit. Diese neue Notwendigkeit, Kompromisse zwischen Flexibilitätsanforderungen und Sicherheitsbedürfnissen zu finden, beschreibt auch das Konzept der Flexicurity.
Doch nicht nur für Unternehmen, sondern für die gesamte Gesellschaft werden systemische Konzepte wie Resilienz und Flexicurity künftig elementar. Die neuen Zukunftsfragen lauten:
Während der Corona-Krise gewann dabei der Begriff der Solidarität eine neue Popularität. Tatsächlich birgt die Idee eines solidarischen „Wir“ viele Potenziale, um Sicherheit in einer vernetzten Gesellschaft zu gewährleisten.
Die Corona-Pandemie erzeugt eine neue Orientierungslosigkeit und verwischt den Blick auf die Zusammenhänge. Mehr denn je brauchen wir jetzt eine Besinnung auf unsere innere Weltwahrnehmung. Und damit auch: eine neue Form von „Verrücktheit“.
Eine zentrale Voraussetzung für mehr Solidarität und Partizipation ist die Abwesenheit von Angst – zuallererst der Angst um die eigene Existenz. Solange keine existenzielle Sicherheit gegeben ist, können auch die kreativen Zukunftskräfte, die eine Gesellschaft nachhaltig resilient machen, nicht voll entfaltet werden. Vor diesem Hintergrund wird künftig auch die Debatte um ein Grundeinkommen weitergeführt werden. Zwar kann auch ein Grundeinkommen keine absolute Sicherheit gewährleisten. Doch es bildet eine Basis, von der aus ein kollektiver Umgang mit Unsicherheit auf kraftvollere und zukunftsfähigere Weise erlernt und aktiv angegangen werden kann.
Sicherheit erfordert Aktivität
Ein systemisches Verständnis von Sicherheit wird mit fortschreitender Vernetzung immer wichtiger werden. Im 21. Jahrhundert kann Sicherheit weniger denn je verstanden werden als ein erreichbarer Zustand, sondern nur noch als ein dynamischer, kontinuierlicher Prozess, für den man sich aktiv einsetzen muss – individuell, organisational, gesellschaftlich. Wir können keine vollständige Sicherheit erreichen. Aber wir können – und müssen – Strategien entwickeln, mit denen wir uns der flüchtigen Sicherheit permanent annähern können.
4 Zukunftsthesen zum Megatrend Sicherheit
Von Sorglosigkeit zu dynamischer Resilienz
Als das Zukunftsinstitut 2018 den Megatrend Sicherheit definierte, schien dieser Begriff noch aus der Zeit gefallen: Die Welt des 21. Jahrhunderts war noch weitgehend von Sorg- und Grenzenlosigkeiten geprägt. Trotz islamistischem Terrorismus erschien die Welt weiterhin offen, und die Menschen waren weitgehend risikobereit – weil Risiken weit entfernt schienen. Heute ist Sicherheit der neue Star unter den Schlüsselbegriffen. Die Krisen unserer Tage, von Pandemie und Ukraine-Krieg bis zu Klima-, Energie- und Inflationskrise, erzwingen einen anderen Blick auf die Wirklichkeit, auf Risiko und Investition, auf Verhalten und Lebensplanung.
Das „Territorium der Ängste“ hat sich gewaltig ausgeweitet. Auf den ersten Blick scheint es, dass dabei die alten Muster, mit Gefahren und Sicherheitsproblemen umzugehen, einfach wiederkehren: mehr Militär, mehr Polizei, mehr Bunker, mehr Geheimdienst. Und womöglich mehr Überwachung. All dies ist vielleicht unabdingbar, aber es definiert nicht mehr das, was Sicherheit in Zukunft sein kann und muss. Dabei gerät zunehmend der Begriff der „Resilienz“ oder der „Anti-Fragilität“ (Nassim Taleb) in den Fokus: Wie lassen sich Organisationen, Prozesse, Territorien oder Informationssysteme resistenter, variabler, robuster machen?
Auch wenn in Europa im Jahr 2022 ein anachronistischer Panzerkrieg tobt: Mit Panzerlogik lässt sich im 21. Jahrhundert auf Dauer kein Krieg gewinnen – und keine Sicherheit „herstellen“. Damit wird der Megatrend Sicherheit zu einer Suchbewegung nach einer neuen Wandlungsfähigkeit und Resilienz: nach einem Verständnis von Systemen, die mehr Selbstorganisation, Autonomie und Autarkie entwickeln, um Störungen, Missfunktionen, Krisen und Katastrophen, die unweigerlich kommen werden, besser absorbieren zu können.
In letzter Konsequenz könnte es sogar um die Frage der Verletzbarkeit gehen, als positiv-aktiver Begriff: Wie verletzbar sind wir – als technische Zivilisation, als Individuen, Gruppen, Gemeinschaften? Verletzlichkeit kann ein großer Vorteil sein, weil sie die Wandlungsfähigkeit des Menschen einbezieht.
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