Einmal im Jahr, Richtung Jahreswechsel, setzen wir uns im Zukunftsinstitut zusammen und versuchen eine Vorwärts-Bilanz. Welche Trends empfinden wir derzeit als besonders wichtig? Welche fundamentalen Entwicklungen erwarten wir? Was sind die wichtigsten Themen für die kommenden Jahre? Daraus entsteht der Zukunftsreport.
Was also wird „demnächst“ wirklich wichtig? Und wie kann man das überhaupt wissen? Ein Teil der hier geschilderten Trends stammt aus jener prognostischen Basis-Arbeit, in der wir pausenlos Trends sammeln, Modelle bauen, Zahlen verarbeiten, Branchen analysieren. Der andere hat viel mit unserem Weltgefühl zu tun. Ja, auch das gehört zur Trend- und Zukunftsforschung: ein Instinkt für das Kommende, für die Unter-Strömungen der Kultur. Ein Gefühl, das gut trainiert und begründet sein muss – um Moden und Hypes gar nicht erst als echte Trends misszuverstehen.
Wenn wir einen Begriff nennen müssten, der in den kommenden Jahren eine Schlüsselrolle spielen wird: Welchen würden wir wählen?
Dieser seltsam schüchterne, aber unglaublich mächtige Begriff hat eine beispiellose Trend-Karriere hinter sich. Wenn Sie „Mindfulness“ googeln, erhalten Sie 34 Millionen Treffer. Achtsamkeit hat es auf die Titelseiten großer Magazine geschafft: Mindfulness prangte auf dem Cover des Time Magazine, ganze Zeitschriften widmen sich dem Thema (Happinezz, Flow), es gibt Mindful-Apps, -Buchreihen und -Studios sowie den „Praxiskurs Achtsamkeit für Manager“ (Preis: 4500 Euro). In vielen großen Unternehmen verdrängen derzeit Achtsamkeits-Trainer die McKinsey-Horden.
So beschrieb es eine große deutsche Tageszeitung:
„Wenn selbst Mercedes seinen Mitarbeitern Mail-Zwangspausen und digitalen Urlaubs-Absentismus verordnet, dann ist das Thema Achtsamkeit in der Mitte der Wirtschaft angekommen. Der Pharmakonzern Genentech startete unlängst ein ehrgeiziges Mindfulness-Programm für seine Mitarbeiter. Intel und SAP erhöhten mit einem ähnlichen Versuch die seelische Zufriedenheit ihrer Mitarbeiter. Bei diesen Programmen geht es nicht nur um Yoga oder Rückengymnastik. Es geht um die kognitive Selbst-Wirksamkeit. Wir dürfen gespannt sein, wann Google vom Googeln abrät. Schon heute propagiert ja Larry Page das Abschalten des Mobiltelefons beim Essen.“
Achtsamkeit ist auf dem besten Weg, den faden Begriff der Wellness abzulösen. Er wird auch – so unsere Prognose – langfristig das derzeitige Lieblingsnebelwort ersetzen: Nachhaltigkeit. Anders als Wellness und Nachhaltigkeit ist Achtsamkeit nicht so einfach korrumpierbar. Achtsamkeit ist Handlung – ein innerer Prozess mit vielen Konsequenzen und Bedingungen. Und mit harten Ausgangslagen.
Zunächst wirkt das geradezu paradox: Wir leben in einer Welt, die derart mit Information, Meinung, Erregung, Angst, Lärm, Gleichzeitigkeit, Krise und Katastrophe überfüllt ist, dass die Vokabel „Achtsamkeit“ wie ein zynischer Treppenwitz klingt. Die Gesellschaft, so scheint es, hysterisiert sich täglich. Die Angst scheint immer mehr Diskurse zu beherrschen. Eine Angst, die sich in Hass übersetzt, in immer primitivere Weltbilder, in falsche Bilder und Regressionen.
Und genau das ist der Grund für die Bedeutung der Achtsamkeit.
Die Welt hat sich auf eine seltsame Weise entzündet. Nicht so sehr, weil es „immer mehr“ Kriege und Konflikte gibt. Sondern weil unsere Wahrnehmung sich verändert hat. Wir sind auf einer gewissen Wahrnehmungsebene empfindlicher geworden.
Das Internet zerstört – oder überreizt – unseren Sinn für Nah und Fern, für Bindung und Ent-Bindung, für das Wichtige und das Verrückte. Unsere informellen Kapazitäten werden überfordert. Was eine „Meldung“ ist und was nicht, das entscheiden inzwischen Klickraten. Die Medien, mit ihrem Hang zu Skandal, Übertreibung, Negativität und Alarmismus, versetzen uns in eine ständige Panikbereitschaft. Wir werden Opfer von Gefühlen mit ansteckender Wirkung.
Überfordert werden wir auch kommunikativ. Menschen sind von der Evolution dazu geprägt, in überschaubaren „bands“ zu leben, in Stämmen mit maximal 80 Mitgliedern. In einer solchen sozialen Größe können wir authentisch kommunizieren, stabile und verbindende Beziehungen aufbauen. Die Globalisierung, die Konnektivität aller Lebens- und Wirtschaftsbeziehungen scheint unser Beziehungsgefüge ständig zu zerreißen. Wer tausend Freunde auf Facebook hat, ist in Wirklichkeit bitter allein. Wer in jeder Sekunde ununterbrochen kommuniziert, kann sich irgendwann selbst nicht mehr spüren.
Menschen sind Bindungswesen. Die technische Zivilisation gaukelt uns jedoch ständig vor, wir könnten Bindung durch Technologie ersetzen. Der amerikanische Internet-Kritiker Evgeny Morozov schrieb kürzlich in einem Kommentar, dass die gloriose Vision von Schrittzählern, Pulsmessern und Pflegerobotern, die heute auf jedem Zukunftskongress verkündet wird, nur eine Art der Abschiebung meint. Wir wollen mit den Alten und Kranken nichts zu tun haben, deshalb gaukeln wir uns vor, Pflegearbeit robotronisch delegieren zu können. Wir wollen mit unserem Körper nichts wirklich zu tun haben, deshalb glauben wir, ständig seine „Daten“ messen zu müssen.
Achtsamkeit heißt: In einer überfüllten, überreizten, überkomplexen Welt müssen wir lernen, uns auf neue Weise auf uns selbst zu besinnen. Uns vergewissern, um leben zu können. Und gleichzeitig birgt der Begriff der Achtsamkeit die tiefere Erkenntnis, dass die Welt gar nicht wirklich über-füllt, über-reizt, über-komplex ist.
Wir erkennen, dass wir die Welt durch unser MIND selbst konstruieren. Wir machen die diversen Hysterien durch unsere Aufmerksamkeiten erst stark! An diesem Punkt wird Achtsamkeit zu einem Freiheitsbegriff – und genau das macht seine Sprengkraft aus.
Ist Achtsamkeit der Gegentrend zur Individualisierung? Im Gegenteil: Es ist die Realisierung von Individualität im Zeitalter der Übernervosität. Achtsamkeit ist die Kulturtechnik der reifen Individualität in einer konnektiven Welt. Gewissermaßen ein Upgrading unserer mentalen Software. Der Begriff ist ohne das Wort Selbst-Wirksamkeit nicht zu verstehen: Achtsamkeit schaut nach innen, ohne das Außen zu vernachlässigen. Nein, wir müssen nicht alles glauben, was uns jeden Tag, jede Minute um die Ohren fliegt.
Wir sind verbunden, aber nicht unbedingt abhängig. Wir sind verantwortlich, aber nicht schuldig. Achtsamkeit will heraus aus dem ewigen Müssen-Müssen. Wir können lernen, die eigenen Schwächen zu verstehen und zu bejahen. Scheitern zu lernen, aber auch aus dem Scheitern zu lernen. Ziele selbst-bewusst zu setzen, anstatt immer nur einem „Ziel“ hinterherzujagen.
Natürlich hat Achtsamkeit etwas mit Spiritualität zu tun. Der Boom von Yoga-Techniken hat sicherlich den Boden bereitet: Meditation ist, in welcher Form auch immer, eine Grundtechnik der Achtsamkeit. Aber es geht nicht um jene „magische Spiritualität“, wie sie heute in jedem esoterischen Billigladen feilgeboten wird („Nutzen Sie Kristalle zur Erleuchtung!“). Achtsamkeit entwickelt sich in den Schnittmengen von Kognitionspsychologie, Systemwissen und Spiritualität. Anders als im klassischen Buddhismus ist das Ziel nicht die Auflösung des Ich. Sondern die Wiederentdeckung des Selbst.
Ist Achtsamkeit ein Geschäftsfeld, ein lukratives „Business“ für die Zukunft? So einfach ist es eben nicht. Die vielen Gurus, Berater, Trittbrettfahrer werden schon ihr Geld verdienen. Aber das Achtsamkeits-Prinzip bedeutet für das Business gleichzeitig einen Paradigmenwechsel von fundamentalen Ausmaßen. Von der Personalabteilung, die auf andere Weise mit Menschen umgehen muss, über die Frage, welche Rohstoffe für einen Produktionsprozess verwendet werden (Cradle to Cradle), bis zum Mindset der Führung. Die erstaunliche anarchische Empathie, die in Deutschland angesichts der Flüchtlingswelle entstand, ist bereits Vorbote dessen, wie Achtsamkeit die Gesellschaft beeinflussen kann.
Achtsame Menschen wissen, dass Krisen Impulse des Neuen sind. Dass Empathie uns guttut. Achtsamkeit lehrt uns, in den Problemen die Lösungen zu sehen. Achtsame Menschen lernen, ihre Angst zu moderieren. Die Flüchtlingskrise wird am Ende unsere Kultur reifer machen. Flüchtlinge können eine Lösung sein – für eine selbstzufriedene und regressive Monokulturalität. ADHS-Kinder – die berühmten Zappelphilippe – sind womöglich nicht der Beweis für teuflische neuronale Veränderungen im Hirn von Kindern, sondern schlichtweg Nichtangepasste einer sitzenden Schulwelt. Wenn wir das Zappeln nicht als Problem, sondern als Lösung sehen, wird ein ganz anderes Phänomen daraus.
Von der Achtsamkeit führen viele Linien in die Trends, die wir im Zukunftsreport 2016 beschreiben.
Jedes dieser Themen steht, auf seine Weise, für eine neue Kultur der Achtsamkeit. Wer ihr Prinzip einmal verstanden hat, erkennt, wie die Zukunft tickt. Oder besser: atmet.
Ein Auszug aus dem Zukunftsreport 2016.