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In einer bekannten alten Erzählung des deutschen Sprachraums geht es um die Auseinandersetzung mit einer dunklen Machtinstanz, die uns an den Raumschiffkommandanten Darth Vader erinnert. In Goethes Ballade "Der Zauberlehrling", am Zenith der Weimarer Klassik geschrieben, belauscht ein junger, unbekümmerter Gelehrter seinen Meister beim Ausüben enormer Kräfte. Er schnappt einen Zauberspruch auf, den er mutig auf vorhandene Töpfe, Krüge und die berühmten Besen anwendet. Doch wenig später muss er eingestehen:
"Die ich rief, die Geister,
Werd’ ich nun nicht los"!
Ein bisschen wie Goethes neugierigem Lehrling geht es uns bisweilen mit der Digitalisierung. Di-gi-tal – das könnten jene drei magischen Silben sein, die der Zauberlehrling beim Belauschen des Meisters aufschnappte. Wie geht es uns mit diesem inzwischen mehr als zwanzig Jahre alten Megatrend?
Drei große "Zaubertricks" sollte die Digitale Revolution bewerkstelligen:
Das erste magische Versprechen wurde weitgehend realisiert. Im Zeitalter von Wikipedia und Google hat sich der Radius des Wissenszugangs für den einzelnen Bürger tatsächlich gigantisch erweitert. Allerdings: Wer über den Zugang zu gewaltigen Wissensressourcen verfügt, muss erst einmal wissen, was er fragen will. Wie man Wissen strukturiert und kontextualisiert. Deshalb hat das Internet die öffentliche Aufgabe von Schulen und Universitäten – entgegen vieler Prophezeiungen – nicht ersetzt, sondern sogar noch wichtiger gemacht.
Dass wir heute Zugang zu weltweiten Datenbanken mit wissenschaftlichen Arbeiten haben, hat der globalen Forschung nicht geschadet, sondern auf enorme Weise genutzt. Wissenschaft beginnt sich zunehmend mit großem Erfolg zu globalisieren, und die internationalen Forschergemeinden bilden inzwischen ein wichtiges Gegengewicht zu Tendenzen des neuen Nationalismus. Als positive Nebenwirkung lassen sich heute auch Fälschungen und Plagiate leichter nachweisen. Auch das "leaking", die journalistische Verbreitung geheimen Daten-Wissens, hat bei aller gebotenen Skepsis am Ende wohl mehr positive als negative Auswirkungen.
Wie aber sieht es mit den beiden anderen Versprechen aus?
Bei diesem Punkt schwanken wir, wie in der gesamten Debatte über Digitalisierung, ständig zwischen Euphorie und einem apokalyptischen Abgrunddenken hin und her. Während auf jedem zweiten Wirtschaftskongress euphorisch das Lied von Industrie 4.0 gesungen wird, herrscht in den öffentlichen Diskursen über die Zukunft der Arbeit eher eine hysterische Schreckensstarre.
Digitale Maschinen werden uns, wie Erik Brynolfsson und Andrew McAfee in ihrem Weltbestseller "The Second Machine Age" schreiben, "demnächst" auch die komplexen Jobs wegnehmen. Ärzte, Piloten, Bankiers und Beamte werden ihren Job verlieren, weil ihre Arbeit von "Künstlichen Intelligenzen" übernommen wird. "Bis zu 40 Prozent aller Arbeitsplätze werden wegfallen!", heißt es in den raunenden Kommentaren der Feuilletons und den komfortablen Angst-Sesseln der Talkshows. Wer wollte sich da nicht gruseln?
Halblang, möchte man sagen. Erstens haben sich Ärzte, Bankiers und Beamte immer recht gut gegen Kräfte jedweder Rationalisierung wehren können. Zweitens wird hier oft zu kurz gedacht: Bei vielen Berufen ist der menschliche Faktor, die menschliche Begegnung, ein substantielles Element. Der Diagnose-Computer, der den Arzt ersetzt, würde mit Sicherheit eine Flut von Heilpraktikern und Heil-Magiern hervorbringen, weil ärztliches Tun immer etwas mit Nähe und Begegnung zwischen Menschen zu tun hat. Digitale Besen kehren nicht gut, wenn es um Gefühle und Nähe geht. Wohl aber können sie vieles unterstützen, was in komplexen Systemen Vereinfachung braucht. Kann man Pflegepersonal in Altenheimen, Krankenhäusern, durch Roboter ersetzen? Selbst wenn man es könnte, würde man das "Problem" der Pflege nicht lösen – Roboter haben keine Gefühle, auch in tausend Jahren wird es schwierig sein, so etwas herzustellen.
Was immer stimmte, und was eigentlich profan ist: Ständig wird menschliche Arbeit im technischen Evolutionsprozess maschinell wegrationalisiert. Aber was auch stimmt: Die meisten dieser Menschen finden neue Tätigkeiten – und keineswegs immer schlechtere. In den 60er und 70er Jahren verschwanden in Europa mehrere Millionen Arbeitsplätze in der Stahl- und Montanindustrie – vermissen wir sie heute?
Gleichzeitig entstanden in der expandierenden Dienstleistungsgesellschaft zahllose neue Berufe und Berufsformen, boomten innovative Wirtschaftssektoren – ganz neue Sektoren von Technologie, Innovation und Kommunikation. Heute sind in den meisten europäischen Ländern, mit Ausnahme weniger Krisenländer im Süden, mehr Menschen erwerbstätig als jemals zuvor, in mehr und diverseren Berufs- und Arbeitsformen als jemals in der Geschichte.
Erstaunlich ist jedoch, dass gerade in der Fabrik die Produktivität viel weniger gestiegen ist als erwartet. "Der Computer", so heißt es immer wieder in den Gutachten seriöser Ökonomen, "zeigt sich überall, nur nicht in den Produktivitäts-Kennziffern". Zwar mag die Industrie 4.0 tatsächlich vor den Toren liegen, aber wir sehen auch: Digitalisierung alleine steigert nicht den Umsatz oder den Absatz, auch nicht den Profit, wenn nicht der Faktor Mensch und seine Kreativität in Einklang damit steht. Automatisierung ist ohne kluge Logistik, ohne ganzheitlich-innovativen Geist, ohne wachsende Bildung und Ausbildung nur eine Notwehrmaßnahme gegen starke globale Konkurrenz, eine passive Absicherung alter Verhältnisse.
"Durch die Digitalisierung rücken Kunden und Unternehmen sehr viel enger zusammen." Auch dieses positive Credo hat sich bis heute nicht immer bewahrheitet. Die Erfahrungen von Kunden und Konsumenten laufen oft auf das Gegenteil hinaus: "Halte uns den Kunden vom Leib durch Daten und mache ihn gleichzeitig zugänglich für Manipulationen und Marketing jeder [...]". Digitalisierung im Kunden-Unternehmen-Verhältnis erzeugt eine neue Vertrauensfrage. Und damit sind wir beim eigentlichen Kern der digitalen Zukunftsfrage angekommen. Denn das Digitale hat uns gigantische Möglichkeiten gebracht – und auf der humanen Seite neue Substanzfragen aufgeworfen.
In der dritten, der kommunikativen Dimension des Internets haben wir ein echtes Problem. Hier haben die magischen Besen inzwischen zu einem wahren Amoklauf angesetzt. "Das Internet ist kaputt", schrieb Sascha Lobo, der bekannteste Digital-Guru Deutschlands, im Herbst 2013. Seitdem ist Lobo noch pessimistischer geworden, was die Zukunft der sozialen Medien betrifft. Mit gutem Grund.
Der Internet-Autor Jon Ronson erzählt in seinem neuen Buch "So you have been publicily shamed" von einer der größten Sünden, die das Netz über uns gebracht hat: Die öffentliche Hinrichtung am digitalen Pranger. Er schildert, nach welchen Schwarmgesetzen es beim Cybermobbing zum galligen Aufstand der Millionen kommt, wenn es darum geht, die soziale Existenz einer Person auszulöschen – wobei das eigentliche Motiv, der Anlass, so gut wie keine Rolle mehr spielt.
"Human cruelty is nothing new. But now people can stab you anonymously. With the internet, public humiliation becomes a catastrophic threat for the trust and consistence of human culture." So beschrieb es Monika Lewinsky in einem viel beachteten TED-Vortrag. Die Ex-Assistentin von Bill Clinton sieht sich als den "Case Number One" eines öffentlichen Erregungstrends, der keine Grenzen des Privaten und der personalen Integrität mehr kennt.
"Die Primitivität und Aggressivität, mit der Andersdenkende im Internet verfolgt werden, scheint mir psychologischen Mechanismen zu folgen, die früher zu Lynchjustiz und Pogromen führten": So formulierte es der Kabarettist Dieter Nuhr, der sich, wie mehr und mehr Prominente, inzwischen aus dem toxischen Dickicht von Social Media zurückgezogen hat.
Wir sollten der Tatsache ins Gesicht sehen: Das "soziale Internet" ermöglicht in seiner heutigen Struktur Rückfälle in kollektiv-primitive Verhaltensformen. Von der warmen Stube aus lässt es sich hassen, brüllen, niedermachen, ohne eine Konsequenz fürchten zu müssen. Das Internet lässt sich in dieser rohen Form auch für Nationalismus, Populismus, ja sogar für Terrorismus funktionalisieren. Demokratie bedeutet jedoch nicht nur Gewaltenteilung, Institutionen und Parlamente. Sondern auch Reichtum der öffentlichen Debatte. Ohne Meinungsfindung, Abwägen, Kompromissbereitschaft, Zuhören – jene geistigen zivilgesellschaftlichen Tugenden, die in Jahrhunderten des Zivilisationsprozesses erlernt worden sind – gibt es keine Weiterentwicklung unserer Gesellschaft. Die digitale Hasskultur droht längst auch auf die anderen medialen Formen überzugreifen, wovon jeder Journalist Zeugnis ablegen kann. Dabei scheinen so fundamentale Kategorien wie "Wahrheit" und "Wahrhaftigkeit" in erste Gefahr zu geraten.
Ist diese "Kultur der Gehässigkeit" unser Zukunfts-Schicksal? Welche Rolle kann und muss der Staat auf nationaler und europäischer Ebene übernehmen? Es wird nicht gelingen, mit Gesetzen allein die Energien einzudämmen, die hier entstehen. Wir brauchen einen Neustart. Einen neuen, guten Geist des Internets.
Für sein Erscheinen gibt es durchaus Anzeichen. Im Internet wird, wie im medialen Raum generell, eine zentrale Ressource verhandelt: Aufmerksamkeit. Und Aufmerksamkeit kann man entziehen! Schauen sie sich um, bei Ihren Freunden, Bekannten, Geschäftspartnern, Kollegen. Wenn nicht aller Eindruck täuscht, kommt es derzeit zu einer Gegenbewegung. Wir lesen nicht mehr jeden Hasskommentar, jeden Blödsinn. Wir schalten mehr und mehr Kanäle ab, deren hohle Erregungslogik wir verstanden haben. In vielen Offices werden E-Mail-freie Tage eingeführt. Wir schalten den Computer und das Smartphone immer häufiger ab, nicht nur im Rahmen der Familie, wo aus dem Verbindungsmedium ja auch ein ständiges Ablenkungsmedium geworden ist. Wir üben vielleicht alle bereits im Stillen so etwas wie eine neue medial-digitale Balance, eine OMLINE-Kultur – "Om" von der indischen Silbe für die innere Entspannung. Vielleicht muss es dabei zunächst zu einem "Digital Backlash" kommen, einem Bruch mit dem Status quo, nach dem wir unsere digitalen Besen wieder neu sortieren.
"In die Ecke,
Besen, Besen!
Seids gewesen.
Denn als Geister
ruft euch nur zu seinem Zwecke,
erst hervor der alte Meister."
Da der "alte Meister" nicht zurückkehrt, sollte man Goethes Endreim im digitalen Zeitalter so interpretieren: Ja, wir müssen fundamentale Gesetze des Miteinander auf den digitalen Raum ausweiten. Wenn wir uns um neue globale Regelungen für Steuerschlupflöcher und Briefkasten-Paradiese kümmern, müssen wir uns auch in legislatorischer Weise mit den Abgründen des Internet auseinandersetzen. Aber unterhalb dieser Schwelle muss das Netz sich selbst formieren und regenerieren. Dafür brauchen wir auch den lebendigen Impuls der Kultur, die Widerstandskräfte der Gesellschaft sowie die Zusammenarbeit zwischen Kultur und Politik.
Hier ist Zuversicht möglich: Im Verlauf der Geschichte wurden menschliche Kulturen immer und immer wieder von Technologien herausgefordert, verändert, umgekrempelt, auch bedroht. Und immer ist es der menschlichen Gemeinschaft gelungen, nach Mühen und Irrtümern Regeln zu finden, damit das Besenwesen nicht aus dem Ruder läuft.