Das Interessengebiet der Zukunftsforschung ist gemeinhin die Stadt. Hier findet Innovation statt, hier entsteht Neues, hier treffen Menschen unterschiedlichster Kulturen und Mindsets aufeinander, hier zeichnen sich Trends und Wandel als Erstes ab. Das Land dagegen spielt in der Trend- und Zukunftsforschung nur eine Nebenrolle: als Sehnsuchtsort und Retreat der gestressten Städterinnen und Städter, als Naturromantik auf Instragram-Kanälen und Bildschirmhintergründen, als Produzent von Konsumgütern und Lebensmitteln, um den Hunger der wachsenden urbanen Räume zu stillen.
Die anhaltende Urbanisierung hat zu einem übertriebenen Fokus auf die städtische Bevölkerung geführt. Tatsächlich sind Städte Orte mit wirkmächtiger Strahlkraft. Sie sind hyperkomplexe, dynamische Systeme, wichtige Problemlöser globaler Herausforderungen, kreative Zentren der pluralistischen Gesellschaft, Knotenpunkte der globalisierten Wirtschaft und zunehmend auch mächtige politische Akteure. Ihre Vielfalt, ihre wirtschaftliche Stärke und ihr kulturelles Leben haben zu einem enormen Zuwachs der urbanen Bevölkerung weltweit geführt. Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in Städten, Tendenz steigend. Doch was ist mit der anderen Hälfte?
Nicht nur die Trendforschung weist hier echte Blindspots auf, auch viele Unternehmen und Organisationen haben ihren Blick so fest auf urbane Kontexte, Märkte und Lebensstile gerichtet, dass ihnen Entwicklungen und Chancen ländlicher Räume oft vollständig entgehen. In unserer Studie Progressive Provinz – Die Zukunft des Landes beleuchten wir daher Entwicklungen und Trends aus und in ländlichen Kontexten und zeigen überraschend progressive und zukunftsfähige Orte, Projekte, Strukturen und Lebensstile auf, die uns künftig auch in den Städten beschäftigen werden.
In Deutschland liegt die Urbanisierungsrate bei über 77 Prozent. Der größte Teil der Bevölkerung lebt scheinbar urban. Zoomt man jedoch hinein in die verschiedenen Regionen, stellt man fest: Die wenigsten Menschen in Deutschland wohnen in richtigen Metropolen. Die meisten leben in Kleinstädten und kleinen Gemeinden, viele eher dörflich anmutend als städtisch. Über 40 Prozent der Deutschen leben in Orten mit weniger als 20.000 Einwohnern, um die 14 Prozent sogar in Kommunen mit unter 5.000 Einwohnern. Auch in Österreich leben über 40 Prozent der Bevölkerung in ländlichen Gebieten. Das Land ist also alles andere als entvölkert. Und weder herrscht dort Stillstand, noch ist für die ländliche Bevölkerung das Leben in den Metropolen das Maß aller Dinge. Abseits von medialer Aufmerksamkeit entwickeln sich ländliche Räume weiter, setzen Trends, bilden eigene kreative Mini-Hubs und glokale Netzwerke aus und werden zu Orten progressiver neuer Sozialstrukturen.
Zoomen wir noch weiter hinein in die einzelnen Kommunen, wird schnell klar: Stadt und Land sind sowieso nicht mehr zwei voneinander trennbare Sphären (und waren es vielleicht auch noch nie). Es gibt nicht „die Städter“ und „die Landbewohner“. Viele Menschen sind heute Multilokalisten, befinden sich also je nach Lebensphase – oder Wochentag – an verschiedenen Orten.
Die Megatrends Konnektivität und Mobilität haben zudem die städtischen und ländlichen Kontexte enger miteinander verwoben als je zuvor. Nicht nur Menschen bewegen sich zwischen den Welten, auch Ideen, Informationen, Arbeitsweisen, Konsummuster und Güter. So verschwimmen auch die Mentalitäten immer stärker. Ein progressives Mindset ist schon lange nicht mehr an die Größe der eigenen Gemeinde geknüpft.
Richtig große Städte mit mindestens einer halben Million Einwohnern gibt es in Deutschland sowieso nur 14, in Österreich eine, in der Schweiz keine. Trotzdem machen Wien, Berlin, Hamburg, München und Frankfurt den Großteil der Berichterstattung aus. Scheinbar passiert alles Wichtige in den Metropolen. Scheinbar. Tatsächlich sind kleinere Gemeinden schon heute oft innovativer als manches urbane Zentrum. Und manches Dorf wird zum Zukunftsort, in dem Lösungen entwickelt und gelebt werden, die zu einem positiven globalen Wandel beitragen werden.
Der Wunsch nach einem Leben auf dem Land wächst. Schon vor Corona wollte mehr als jede und jeder dritte Deutsche am liebsten auf dem Land wohnen. Besonders Menschen, die schon länger in der Stadt wohnen, leben oft mit einer Sehnsucht nach dem Land und wünschen sich mehr Ruhe, mehr Platz und mehr Nähe zur Natur. Spätestens bei der Familiengründung denken viele Städterinnen und Städter über einen Umzug nach.
Die wachsende Akzeptanz von Remote Work und die seit Jahren steigenden Mietpreise befeuern diesen neuen Trend zur Stadtflucht. Die Corona-Pandemie stellt sich als Trendbeschleuniger für diese Entwicklung heraus, deren Effekte jetzt erst spürbar werden. Denn Corona hat die Vorteile vom Leben in der Stadt – ein reichhaltiges Angebot an Kultur, Gastronomie und Unterhaltung – von einem Tag auf den anderen ins Gegenteil verkehrt. Eine Pandemie lässt sich auf dem Land besser aushalten als in der Stadtwohnung ohne Balkon.
Die Covid19-Pandemie hat nicht zu einer Umkehrung des Megatrends Urbanisierung geführt, die Städte werden weltweit weiterhin wachsen. Neben diesem Großtrend gibt es jedoch neue Migrationsbewegungen von den Städten (zurück) aufs Land, neue multilokale Lebensweisen sowie viele neue Vermischungen und Verbindungen zwischen Stadt und Land. Viele ländliche Gebiete werden zu Impulsgebern und Geburtsstätten sozialer und technologischer Innovationen, die auf die Städte zurückwirken. Dörfer werden zu Zukunftsorten – und fast vergessene Landstriche zur Progressiven Provinz.
Das Land war lange untrennbar mit Landwirtschaft verbunden. Diese war die Lebensgrundlage der Landbevölkerung und versorgt bis heute die Städte. Gemüse, Getreide, Obst, Fleisch und Holz: Das Land beliefert die Städte mit allen überlebenswichtigen Gütern. Die Landwirtschaft selbst hat sich jedoch radikal gewandelt. In den vergangenen Jahrzehnten wurde die landwirtschaftliche Produktion immer weiter automatisiert und maximiert. Die Folge: Dumpingpreise von Lebensmitteln, der Wegfall von Arbeitsplätzen auf dem Land und verödete Landschaften. Und nicht zuletzt die Bedrohung der Lebensgrundlage für alle: Die Ausbeutung der Natur durch den Menschen trägt einen nicht unwesentlichen Teil zur Klimakrise bei.
Doch es zeichnet sich ein Umdenken ab, ein neuer Umgang mit der Natur, in der der Mensch als ihr Gestalter auftritt, nicht als ihr Zerstörer. Ökolandbau, solidarische Landwirtschaft und Permakultur sind Hoffnungsträger für überlastete Böden, erschöpfte Bauern und kritische Konsumentinnen. Die Lösung liegt jedoch nicht in einem „Zurück zur Natur“, sondern in einer klugen Synthese von traditionellen Methoden und neuen Technologien. Moderne Technologien werden zur Basis von ökologisch nachhaltiger Produktion: Ernteerträge können langfristig gesichert werden und sogar abseits des Landes in Städten und sogar in Laboren hergestellt werden. So werden Habitate geschützt und kostbare Ökosysteme entlastet.
Noch sind viele digitale Tools nur für große landwirtschaftliche Betriebe erschwinglich. Doch schon jetzt zeigt sich der Anbruch einer neuen Ära. Je mehr nachhaltige Akteure, Macherinnen und Konzepte sich aus der Nische in den Mainstream bewegen, umso schneller transformiert sich die Landwirtschaft in eine zukunftsfähige Branche – und erhöht damit nicht nur die Lebensqualität auf dem Land, sondern auch in den Städten.
Fehlender Glasfaserausbau, schlechte Verkehrsinfrastrukturen, zu wenig medizinische Versorgung, mangelnde Arbeitsplätze und Bildungsmöglichkeiten sind nur einiger der vielen Herausforderungen, mit denen ländliche Räume immer noch zu kämpfen haben. Menschen auf dem Land sind oft auf das Auto angewiesen. Eine gute öffentliche Verkehrsanbindung findet sich höchstens im Speckgürtel größerer Städte, nicht aber in der Peripherie. Auch in puncto medizinischer Versorgung ist das Land häufig nicht gut aufgestellt: In ländlichen Regionen kann eine Fahrt zum nächsten Krankenhaus bis zu 60 Minuten dauern. Doch für jedes Infrastrukturproblem gibt es inzwischen eine Vielzahl innovativer Ideen, Projekte und Lösungsvorschläge. Gerade die Lücken in der Versorgung, mit denen das Land sich häufig abmüht, erweisen sich oft als Möglichkeitsräume und Katalysatoren für Neues.
Neue Projekte rund um E-Health und Telemedizin etablieren sich, Mobilitätslösungen aller Art werden getestet und entwickelt, um die Lücken zu schließen. In der Provinz entstehen zentrale Bausteine, die ländliche Netzwerke und Landschaften transformieren. Fast alle Projekte erwachsen aus lokalen Ressourcen und Akteuren. Und: Der „Mensch“ ist immer Ausgangs- und Mittelpunkt dieser Innovationen. Weil Innovationen, die auf dem Land bestehen, sich an echten menschlichen Bedürfnissen bewiesen haben, können sie damit auch als Vorbild für Antworten auf urbane Probleme dienen.
Bisher wurde Infrastruktur aus einer städtischen Perspektive konzipiert. Wenn Infrastruktur nur an hohe Dichte geknüpft wird, ist der ländliche Raum jedoch grundsätzlich benachteiligt. Neue Innovationen, die im und für den ländlichen Raum entwickelt werden, lassen eine andere Perspektive zu: eine Infrastruktur, die nicht über Dichte definiert wird, sondern um die Bedürfnisse des Individuums konzipiert ist. Die Frei-Räume des Landes bieten Platz und Ressourcen zum Experimentieren – eine ganz andere Freiheit als die Enge der Stadt. Schon heute zeichnen sich in glokalen Energiemodellen, intermodalen Mobilitätskonzepten und progressiver Telemedizin diese neu gedachten Infrastrukturen ab.
Das Land ist oftmals verbunden mit der Vorstellung verlassener Geisterdörfer, in denen nur die ältere Generation zum Sterben zurückgeblieben ist, während die Jungen sich in die Städte aufgemacht haben. Diese verlassenen Landstriche existieren tatsächlich. Doch in den meisten Regionen zeigt sich ein ganz anderes Bild: Viele ländliche Räume haben sich in den letzten Jahren zu Erholungsgebieten für naturverbundene Reisende und Stadtflüchtige gemausert. Regionaltourismus, Wochenendhäuschen und Co-Working auf dem Land boomen. Durch die Pandemie und damit verbundene Reisewarnungen hat der ländliche Raum als Urlaubsziel einen immensen Aufschwung erfahren. Viele Menschen haben die nähere Umgebung als Reiseziel lieben gelernt – eine neue Begeisterung fürs Lokale wurde geweckt, die auch nach Corona noch lange nachwirken wird.
Welchen Standortvorteil der ländliche Raum hat, warum Städte ein soziales Risiko sind warum überall Resonanzregionen und Zukunftsdörfer entstehen.
Der Trend zum Resonanz-Tourismus wird vor allem auf dem Land sichtbar. Dort entstehen echte Resonanzerfahrungen, also authentische Kontakte und Begegnungen mit Einheimischen, Landschaften und kulturellen Besonderheiten. Gemeinden mit einer starken Identität sind besonders attraktive Urlaubsziele. So müssen Regionen und Dörfer, die Reisende oder Zuwachs gewinnen wollen, ihren ganz eigenen USP erkennen und pflegen – und ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen: Durch die Stärkung der dörflichen Strukturen, die Wiederbelebung des Dorfkerns und die Öffnung nach außen entstehen neue Resonanzpotenziale – für die Bewohnerinnen und Bewohner, aber auch für Touristinnen und Multilokalisten. Neue Nutzungskonzepte für leer stehende Gebäude, Co-Working-Spaces für Einwohner und Besucherinnen sowie Workation-Angebote und eine Rückbesinnung auf lokale Spezialitäten, Kompetenzen und Handwerk hauchen ländlichen Regionen neues Leben ein.
Vor allem Gemeinden, die nicht vollständig vom Tourismus abhängig sind, schaffen meist einen bleibenden Eindruck bei Reisenden – und auch die höchste Lebensqualität in den Orten selbst. Zentral sind also auch ansässige Unternehmen jenseits der Tourismusbranche. Sie können mehr schaffen als nur Arbeitsplätze. Als Treiber der Region, als Teil der ruralen Identität, als Anziehungspunkt für neue Mitarbeitende können sie einen echten Beitrag leisten, die ländlichen Regionen lebenswerter zu gestalten – im Gegenzug können sie auf eine loyale Mitarbeiterschaft setzen und verfügen oft über eine Menge Gestaltungsspielraum.
Fremdenfeindlich? Rückwärtsgewandt? Ökonomisch und kulturell verödet? Alles nicht mehr aktuell. Im Gegenteil: Das Landleben ist in. Die Provinz befindet sich im Wandel und ist dabei schneller und fortschrittlicher als so manche Großstadt. Denn ein großer Vorteil von Dörfern und kleinen Gemeinden ist ihre Wandlungsfähigkeit. Aufgrund ihrer übersichtlichen Größe und der weniger komplexen Strukturen können sie Veränderungen zügig und mit schnell sicht- und spürbaren Ergebnissen umsetzen. Und: Was sich auf dem Land bewährt, wird immer häufiger zum Exportgut in die Städte.
Immer mehr Stadtmenschen suchen den Ausstieg aus der Anonymität und Enge der urbanen Zentren – sei es temporär oder dauerhaft. Auch das verstärkt den Wandel hin zu Progressiven Provinzen. Je stärker die Impulse aus den Städten die Regionen transformieren, desto urbaner fühlen sich die Regionen abseits der Metropolen an. Rurbane Landschaften entstehen, die sich zu regionalen Netzwerkknoten ausbilden. Auch kleine und mittlere Regionalzentren positionieren sich neu. Durch die Integration ländlicher Regionen in transnationale Netzwerke sind die Menschen in den Provinzen zu glokalen Akteurinnen und Akteuren geworden: Sie handeln lokal, aber eingebunden in überregionale Kontexte und im Bewusstsein für globale Implikationen.
Ob man im urbanen Kiez oder in der grünen Natur leben will, ist künftig keine Entweder-oder-Frage mehr. Die Auflösung der Stadt-Land-Dichotomie ist grundsätzlich weniger eine physische als eine mentale und soziale Entwicklung. Es finden sich rurale und urbane Lebensstile an verschiedenen Orten, zunehmend losgelöst von den Kategorien Stadt und Land. Künftig haben wir es immer häufiger mit hybriden Lebensräumen zu tun, in denen Strukturen, Geisteshaltungen und das soziale Gefüge mal einheitlich und mal vielfältig, mal starr und mal fluide sein können – in jedem Fall aber veränderbar.
Das Land hat Zukunft. Als Ort der Erholung, als soziales Experimentallabor, als Basis neuer Gemeinschaften oder als Community mit dörflicher Struktur und urbaner Offenheit entwickeln sich Dörfer und Regionen zu neuen Treibern, die gesellschaftliche Entwicklung voranbringen. Ob als neue kreative Hubs, naturnahe Co-Working-Spaces, Erholungsorte oder Zweitwohnsitze für nahe gelegene Städte, Mini-Zentren innovativer Technologien oder innovative Mikrogemeinschaften, die soziale Innovation und Nachhaltigkeit leben – auf dem Land wird an vielen Stellen heute schon Zukunft gelebt.
Das Land wird zum Reallabor für innovative Infrastrukturen.
Die ländlichen Infrastrukturen der Zukunft zeigen sich schon heute in glokalen Energiemodellen, progressiver Telemedizin und intermodalen Mobilitätskonzepten. Sie haben eine hochspezifische Eigenlogik und sind aus der Perspektive individueller Bedürfnisse heraus konzipiert. Somit werden sie zum Vorbild auch für Lösungen im urbanen Raum.
Zwischen Technik und Tradition schafft die nächste Evolutionsstufe der Landwirtschaft ein neues Verhältnis zur Natur.
Landwirtschaft wird nachhaltiger – und digitaler. Neue Konzepte, die Ressourcen schonen und Versorgung gewährleisten, bewegen sich von der Nische in den Mainstream. Im 21. Jahrhundert tritt eine vierte Instanz in die Dreiecksbeziehung zwischen Homo sapiens, Flora und Fauna: Big Data und Roboter werden unser Verhältnis zur Natur revolutionieren.
Resonanz-Tourismus stärkt regionale Identitäten – und schafft Lebensqualität.
Kleine Dörfer und Gemeinden sind wandlungsfähiger als Städte: Sie schaffen Wendemanöver dank ihrer weniger komplexen Strukturen und gelebten Netzwerke sehr viel zügiger. Gerade in der Reisebranche zeigt sich das Land als Vorreiter: Der Resonanz-Tourismus erhöht nicht nur die Lebensqualität der Gäste, sondern auch die der Einwohner.
In der Progressiven Provinz verschmilzt das Dorf mit der Stadt.
Das Dorf ist die neue Stadt: Ländliche Regionen positionieren sich als Orte der sozialen Innovation. Zwischen Metropolen und Peripherie bildet die Progressive Provinz Netzwerke aus Visionärinnen, Weltverbesserern und Kreativen, die rurale Räume als Versuchslabore für Gesellschaftstrends nutzen. Hier entsteht das Zusammenleben und Zusammenarbeiten der Zukunft.
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