Auch wenn die Globalisierung so alt ist wie die Menschheit selbst: Die Machtverschiebungen in Richtung Asien, der Aufbruch Südamerikas, die Digitalisierung und die enorme Mobilität von Menschen und Waren bescheren uns einen Weg in eine Globalkultur, wie sie nie zuvor existiert hat. Die Erde ist ein friedlicherer Ort geworden, obwohl die Anzahl der Menschen auf dem Planeten so groß ist wie noch nie. Wir erleben Weltregionen, die sich rasant bevölkern und andere die hohe Kunst des Alterns lernen. Eine gigantische Digitalisierung macht die Welt in einem Mausklick erreichbar und liefert unendlich viele Daten, erzwingt aber auch ein stärkeres regionales Bewusstsein.
Wir sehen Milliarden von Menschen in Ballungszentren, während ganze Landstriche ausdünnen. Wir sehen globale Güterströme, aber zugleich um die Städte herum lokale Zentren des Wissens entstehen. Wir leben in einer Welt der Widersprüche Die Wirtschaft wird mit einer höheren Komplexität und Diversizität umgehen müssen und Multipolarität, nicht mehr dominiert von der Spezies des weißen Mannes mit grauen Haaren. Die Globalisierung macht die Welt der nächsten Dekaden zu einem Ort des Sowohl-als-auch. Die Wirtschaft wird dabei mit einer höheren Komplexität und Diversizität umgehen müssen, regionale Kreisläufe wieder entdecken und transparentere Strukturen hervorbringen. Wissen wird in vielen Bereichen Ressourcen ersetzen und drastisch die Öko-Effizienz steigern. Globalisierung führt in eine Welt vernetzter, robuster Systeme, in der multipolare Politik neue gemeinsame Spielregeln entwirft.
Mitte der 50er Jahre erfand der US-amerikanische Spediteur Malcolm McLean die Grundlage eines völlig neuen Wirtschaftssystems: den Container. Bereits zum Ende der 60er Jahre hatte der Transport-Container weltweite Bedeutung erreicht. Der Grund ist eigentlich sehr schlicht: Waren in Containern müssen nicht umgeladen und neu sortiert werden. Mühsame und aufwendige Ladevorgänge entfallen. Gekoppelt mit der aus Japan kommenden „Just-in-time“- Philosophie, führte dies zu einem ganz neuen Verständnis von Produktion, Lagerung und Logistik. Die Möglichkeiten weltweiten Handels stiegen enorm, die Auslagerung von Produktionsstätten, vor allem nach China, wurde immer lukrativer, denn der Transport kostete nur mehr Bruchteile. Mit der wachsenden Bedeutung des Containers verschob sich auch die Dimension der Transportmittel. Gigantische Frachtschiffe benötigen neue Häfen und Umschlagplätze. Dieses Dimensionswachstum wiederum machte den globalen Transport noch einmal wesentlich billiger. Machten die Transportkosten in den 50er Jahren noch gut ein Viertel des Endpreises von Waren aus, so sprechen wir heute bei den meisten Produkten von Promillewerten.
Der Transportanteil am Endpreis eines in China produzierten Turnschuhs beispielsweise kann heute in Cent gemessen werden. Nimmt man demnach klassische Wirtschaftsgüter als Beobachtungsmaßstab, so ahnt man das ungeheure Ausmaß globaler Vernetzung. Da passiert es dann schon, dass selbst eine Tiefkühlpizza ein „Just-in-time“-Produkt globaler Lieferströme wird, wie der Wirtschaftsjournalist Paul Trummer an einer Salami-Pizza zeigt: Der Weizen kommt aus Uganda oder Indien, die Tomaten und Oliven aus Italien, der Oregano aus Mexiko, der Knoblauch aus China und Fleisch, Milch und Käse aus Deutschland.
Doch die Geschichte der Globalisierung ist nicht nur eine von Warenströmen und Produktion. Auf vielen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens stehen wir erst am Beginn einer Globalisierung – wir üben erst, wie Pankaj Ghemawat von der IESE Business School in Barcelona nüchtern formuliert. Seine Quintessenz: Wir leben allenfalls in einem Zeitalter der Proto-Globalisierung. Anlass für diese Behauptung gibt ein Blick auf Zahlen, die der Mathematiker über viele Jahre akribisch untersuchte und in „World 3.0“ veröffentlichte:
Dass die globalen Vernetzungen geringer sind, als sie oft erscheinen, sieht man auch an dem Effekt der vergangenen Jahre auf viele US-amerikanische und europäische Unternehmen. Ein Viertel dieser Firmen, so Ghemawat, haben in der Finanzkrise von 2008 ihre Lieferketten wieder verkürzt und sich auf heimische Ressourcen besonnen. Auch eine Konzentration auf wenige Super-Player lässt sich in den Zahlen so nicht bestätigen. Eher das Gegenteil ist der Fall: Die Konzentration in den globalen Schlüsselbranchen ist von 1950 an ständig gefallen. Selbst der Aufstieg der asiatischen Supermächte China und Indien sorgt nicht für eine Verschiebung und Verdichtung von Macht, sondern führt zu einer neuen Vielfalt.
César Hidalgo vom MIT hat vor dem Hintergrund einer vielfältiger werdenden Welt gemeinsam mit der Universität Harvard den „Atlas of Economic Complexity“ herausgegeben. Denn Vielfalt erhöht die Komplexität und führt damit zu einem neuen Anspruch – auch, oder gerade, für Je komplexer die Wirtschaft eines Landes aufgestellt ist, desto robuster ist sie die westliche Welt. Die Botschaft im Atlas der Komplexität ist simpel: Je komplexer die Wirtschaft eines Landes aufgestellt ist, desto robuster ist sie auch. Je mehr unterschiedliche Spezialisierungszweige funktionieren, desto weniger kann ein Land (oder eine Region) ins Schwanken geraten, beziehungsweise umso mehr ist es in der Lage, Resilienz aufzubauen.
Dabei haben die Wissenschaftler auch einen Komplexitätsindex entwickelt, den ECI (Economic Complexity Index). Vergleicht man hiermit die beiden Krisenländer Spanien (Index: 0,933) und Griechenland (Index: 0,214), wird klar, dass Spanien deutlich besser dasteht. Denn je komplexer und diverser die vorhandenen Fähigkeiten, desto größer sind die Zukunftschancen für die Wirtschaft eines Landes. Die Theorie dahinter ist einfach zu verstehen: In einer komplexer werdenden, globalisierten Welt muss die eigene Komplexität mitwachsen. Sie muss durch Diversität eine Mehrzahl an Deutungen und Ausprägungen zulassen. Andernfalls ist das eigene System kaum noch zum Rest kompatibel und fällt zurück.
Dies bedeutet nun nicht zwingend, dass jetzt auch Griechenland zum High-Tech-Land mit Autoindustrie werden muss. Sondern dass es sich in seinen eigenen Stärken ausdifferenziert und Innovationsstrukturen herausbildet. Klarerweise befinden sich nicht alle Länder der Welt immer auf demselben Komplexitätsniveau, weshalb ein Ungleichgewicht auf unserem Planeten wohl immer eine Tatsache bleiben wird. Noch zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte der Welt gab es so etwas wie ein globales Gleichgewicht. Globalisierung bedeutet letztlich die permanente Anpassung von Ungleichgewichten. Doch die evolutionäre Entwicklungstendenz hin zu einer höheren Komplexität führt uns in eine Zukunft, in der das gesamte vernetzte System „Welt“ robuster und stabiler werden kann. Vor allem, wenn es gelingt, auch unsere Steuerungsmechanismen dieser höheren Komplexität anzupassen.
Umkreist man mit einem Stift die Grenzen Asiens (von Russland bis Indonesien), so erhält man als Ergebnis eine Ei-Form. Innerhalb dieses Eis befinden sich zwei Drittel der gesamten Bevölkerung der Welt. Aber nicht nur das: Auch die größte wirtschaftliche Dynamik geht seit einigen Jahrzehnten von diesem Ei aus. Was für die momentan lebenden Generationen wie eine große Neuerung wirkt, ist historisch betrachtet eigentlich eine Rückkehr zu alten Verhältnissen. Bereits um 1800 befanden sich in Asien 65 Prozent der Weltbevölkerung, und 50 Prozent aller Waren wurden dort produziert.
Für den darauf folgenden Abschwung Asiens, oder anders betrachtet, den Aufschwung der westlichen Welt, gibt es viele Gründe. Der Erfolgsweg Amerikas und die Industrialisierung des Westens, die konservative Führung Chinas und damit die geringe Innovationskraft der dortigen Militärs sowie der Wirtschaft, um nur eine Blitzanalyse zu machen. 1900 jedenfalls lebten zwar immer noch 57 Prozent der Menschen in Asien, aber nur mehr 20 Prozent aller produzierten Güter kamen aus diesem Teil der Welt. Nimmt man den Status quo, so liest sich die Geschichte schon wieder anders. Laut dem Historiker Joseph Nye produzieren diese zwei Drittel der Weltbevölkerung immerhin schon wieder mehr als die Hälfte aller Produkte. Tendenz: Stark steigend. Dabei hat die Welt noch nie zuvor so viele Wirtschaftsgüter hervorgebracht wie zurzeit. Der Welthandel mit Industriegütern hat sich in den letzten 30 Jahren verfünffacht.
„Niemals zuvor hat das Wirtschaftssystem so viele industriell hergestellte Waren erzeugt wie heute, ihr Volumen nahm noch im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts um 55 Prozent zu“, formuliert es der Atlas der Globalisierung. Dabei sind es nur fünf Staaten, welche rund die Hälfte der weltweiten Güter herstellen: China, gefolgt von den USA, Japan, Deutschland und Italien. Motor der asiatischen Entwicklung ist also ohne Zweifel China. Dort werden alleine ein Drittel der weltweit produzierten elektronischen Geräte gefertigt: 85 Prozent der DVD-Player, 80 Prozent der Digitalkameras, 50 Prozent der Mobiltelefone. Aber auch die Hälfte der Solarzellen der Welt.
Doch längst ist es nicht mehr nur eine reine Billigproduktions-Philosophie, die China voranbringt. Auch in Sachen Innovationsdynamik zeigt die Volksrepublik ihre Vormachtstellung. So stieg die Anzahl der eingetragenen Patente in China im Zeitraum von 2008 bis 2011 von 6120 auf 16.406 – das ist ein Wachstum von 33 Prozent nur im Jahr 2011.6 Deutschland legte beispielsweise 2011 nur um 5,7 Prozent zu, die USA immerhin um 8 Prozent.
Auch wenn die eingetragenen Patente noch nicht automatisch die Innovationskraft eines Landes beziffern, erkennt man an der aufstrebenden Zahl in China jedenfalls die Absicht. China will, mit dem Selbstbewusstsein eines globalen Leaders, auch die eigene Kreativität und Innovation ausleben. So hat China, was die Anzahl der tätigen Wissenschaftler anbelangt, die USA fast eingeholt, Europa und Japan schon längst übertrumpft. Asien startet, mit China an der Front, die nächste Runde der Globalisierung. Dabei macht man sich die Errungenschaften des Westens zunutze. In Summe, und das zeigen schon die finanziellen Verstrickungen der Länder untereinander, ergibt sich daraus eine multipolare Weltordnung, in der niemand mehr „eindeutiger Führer“ ist. Vielmehr avanciert die Welt eher zum Netzwerk starker Partner mit unterschiedlichen Potenzialen. Was auch an den sehr unterschiedlichen kulturellen und räumlichen Voraussetzungen liegt.
In der Skalierung von zehntausenden von Jahren war vor allem eines für das Fortschreiten der Globalisierung verantwortlich: das Wetter und die klimatischen Bedingungen. So wurde der von Historikern als „Fruchtbarer Halbmond“ bezeichnete Landstrich vom heutigen Israel bis in den Süden der Türkei zum ersten Ort der Welt, an dem die Menschen sich nachweislich längerfristig niedergelassen hatten. Dort baute man bereits vor 11.000 Jahren Gerste und Roggen an, schaffte einfache Das Umfeld der Städte entspricht heute der „Fruchtbarkeit“ der modernen Welt Behausungen und gründete Siedlungen. Grund dafür war vor allem die Fruchtbarkeit und das angenehme Klima, die zu jener Zeit in dieser Region vorzufinden waren. Dieses Prinzip wiederholte sich häufig im Laufe der Geschichte der Globalisierung, ebenso, dass Menschen auf Grund der örtlichen Rahmenbedingungen weiterzogen. Die Kraft ging also von den Orten aus und dem, was diese versprachen.
Auch heute haben Orte eine ungebrochen starke Wirkung und sind Treiber globaler Veränderungen. Die Urbanisierung zeigt dies deutlich: Das Umfeld der Städte entspricht heute der „Fruchtbarkeit“ der modernen Welt. Es ist nicht mehr das Wetter oder die Beschaffenheit des Bodens, es sind die Jobs, die Vernetzungsmöglichkeiten, die Kultur und die Bildung. Aber wieder bewegen sich die Menschen gemäß dem Versprechen der jeweiligen Orte. Die Ressource „Talent“, welche die globale Weltwirtschaft im 21. Jahrhundert dringend braucht, versammelt sich an den Orten mit den besten Rahmenbedingungen. Deshalb ist New York noch immer Zentrum der Finanzwelt: Auch wenn die Bedeutung der Börsen in Shanghai, Shenzhen, Bombay oder Brasilien sehr viel größer geworden ist, kann New York nach wie vor durch seine Vielfalt die Talente aus der ganzen Welt anlocken und sich dadurch als Finanzstandort Nummer eins behaupten.
Auch weil die Rahmenbedingungen in der amerikanischen Metropole jenseits des Geldes spannend und anziehend sind. Die weit ausdifferenzierten Angebote rund um das tägliche Leben – vom Essen bis zum Tanz – sind kaum zu kopieren: mehr als 150 Theater, über 200 Museen, 700 Galerien, 18.000 Restaurants. Die Talente dieser Welt zieht es dorthin, wo sich neben der Ökonomie auch eine lebenswerte Kultur entwickelt, wo Lebensqualität als Währung des 21. Jahrhunderts vermutet wird. Und somit ist es in einer globalen Welt eben nicht nur die monothematische Ausrichtung, die einen Ort spannend macht. Es sind die differenzierten Entwicklungsmöglichkeiten: Vielfalt und Partizipation. Unterkomplexe Orte, nur gut zum Arbeiten, werden langfristig die nötigen Talente nicht anziehen. Und diese sind die essenziellste Ressource für Prosperität in der globalen Wissensökonomie.
Die gigantische Digitalisierung des letzten Jahrzehnts hat dazu geführt, dass wir die Welt heute als überschaubar erleben. Blitzartig werden wir über alles informiert, können in die Tiefe forschen oder uns ganz breit vernetzen. Der Amerikaner Jeremy Rifkin sieht uns daher in einer Die Digitalisierung lässt einen neuen Universalrahmen für Werte und Weltsichten entstehen neu entstehenden Globalkultur. Einer Art Universalrahmen für Werte und Weltsichten. Da wir alle durch dieselben digitalen Kanäle auf die Welt blicken und das Medium selbst Botschaft ist, setzt sich diese globale Weltsicht stärker durch.
Die mittlerweile weltweit über zwei Milliarden, die Zugang zum Internet haben, nutzen ganz ähnliche Anbieter, um die Welt durch die Technik zu sehen: Google ist dabei ungeschlagen die Nummer eins, gefolgt von Facebook und YouTube (ebenfalls Google). Yahoo befindet sich auf Platz vier der am meisten genutzten Internetseiten, und dann kommt schon Baidu – die chinesische Suchmaschine; noch vor Wikipedia. Mit Amazon befindet sich auch ein Anbieter von physischen Produkten immerhin noch auf Platz zehn unter den Top Ten. Mit dieser Art der Weltbetrachtung entsteht auch eine Art Gemeinschaftsprinzip, das spätestens durch den Arabischen Frühling deutlich wurde. Digital fieberte die ganze Welt mit den Revolutionären mit. Auch wenn Menschen in Europa oder Amerika diese Art von Revolution nicht erleben, nutzen sie die digitalen Kanäle auf ähnliche Art: um sich ihre Gefühle zu erzählen, sich zu verabreden, sich ihre Meinung zu bilden oder sich coole Filme anzusehen.
Speziell die mobilen Technologien haben in den letzten Jahren einen enormen Beitrag zur Verbreitung der Globalkultur geleistet. In Sub-Sahara-Afrika, und damit außerhalb der arabischen Welt, hat sich beispielsweise das Mobiltelefon in den letzten Jahren rasant verbreitet: Hatten 2005 noch lediglich zwölf Prozent der Bevölkerung ein Mobiltelefon und zwei Prozent einen festen Internetzugang, so sind im Jahr 2010, nach Daten der Weltbank, schon 45 Prozent der Bevölkerung mit Mobiltelefonen und zwölf Prozent mit einem Internetanschluss ausgestattet. Im Vergleich dazu: Einen Festnetzanschluss besitzt in Sub-Sahara-Afrika 2010 nur ein Prozent – wie schon im Jahr 2005!
Mit der globalen Einführung dieser Technologien ergeben sich auch Brüche im Verständnis von Medien: Es ist die Beteiligung und das Teilen an sich, die im Zentrum dieser neuen Technologien stehen. Nicht die eine Botschaft an alle, sondern ein Gespräch mit vielen Botschaften an die Vielen. Vor allem durch die sich massiv entwickelnde globale Mittelschicht wird dieses globale Gespräch ein anderes. Eines in vielen Facetten und Prägungen, eines, in dem die Welt sich in ihrer Buntheit spiegelt.
Dabei wird die Welt aber nicht sofort „flacher“, wie der Autor Thomas Friedman in „The World is Flat“ interpretiert werden kann. Blickt man genauer auf die digitalen Verbindungsströme, zum Beispiel in Facebook, so erkennt man alte Trampelpfade wieder. Die Hauptverbindungen der Facebook-User in Deutschland reichen – entlang der Arbeitsmigration der 60er Jahre – in die Türkei und nach Serbien. Die Spanier vernetzen sich digital vor allem mit ihren alten Kolonialmächten in Südamerika. Und die zentralen Verbindungen der Schweden reichen in den Iran und den Irak! Mit unserer neuen Kommunikationstechnologie wird die Welt zwar einerseits flacher, aber auch tiefer und regionaler. Und mit dem Aufstieg von Milliarden Menschen in Asien, Südamerika und langfristig auch Afrika in die globale Mittelschicht werden diese Technologien zum Schlüssel eines neuen Weltverständnisses.
Ungleichgewicht ist die Natur der globalen Welt, so auch in der Bevölkerungsentwicklung. Erleben wir massive Wachstumszahlen vor allem auf der Südhälfte der Erde, so geht die Entwicklung im Norden in die Herbstphase. Europa wird weniger und schrumpft. Die globale Bevölkerung wird Das Anwachsen von Wohlstand und Lebenserwartung verringert die globale Geburtenrate nicht „explodieren“, wie uns dies so manche lineare Entwicklungsgrafik prognostizierte. Was wir heute in Europa erleben, ist der Vorbote einer globalen Stoßrichtung. Mit dem aufkommenden Wohlstand, einer größer werdenden Mittelschicht und der zunehmenden Lebenserwartung verringert sich überall auf der Erde die Geburtenrate.
Was auf der europäischen Ebene als Schrumpfungsproblem zu Tage tritt, ist das Frühstadium einer globalen Entwicklung. Und so müssen sich Europa, aber auch Teile von Asien und Südamerika eher darauf einstellen, mit Alterung und Schrumpfung umzugehen, wohingegen andere Teile Asiens und vor allem Afrika die Bevölkerungsvermehrung zu managen haben. Aber dieser Wachstumsschub verläuft vor einem anderen Hintergrund:
Damit erleben wir eine völlig neue Welt, in der der Westen das Privileg der Weltherrschaft endgültig verloren hat. Aber nicht an jemanden bestimmten, sondern an eine multipolare Weltgemeinschaft. Diese neue Welt fordert unser Wissen und unsere Fähigkeiten – schon alleine beim Umgang mit Ressourcen. Sie bietet aber andererseits auch die einzigartige Chance, glokale Wirtschaftskreise zu installieren und damit Regionen zu stärken, ohne sich abzugrenzen. Für viele Branchen bedeutet dies massive Umwälzungen, aber auch Chancen, wie ein Blick in ausgewählte Industrien bezeugt.
Nichts prägt unser Leben in einer globalisierten Welt so sehr wie Mobilität. Die Autobranche kann dabei vor allem von dem Verlangen nach individueller Fortbewegung profitieren. Auch 2030 ist das Auto laut Prognosen der Europäischen Kommission noch das Verkehrsmittel Nummer eins – vor allem durch die globale Nachfrage. Globalisierung bleibt auch für die deutsche Automobilindustrie weiterhin Chance und Risiko zugleich. Mit 4,6 Millionen Exporten (2011) gehört die Branche definitiv zu den Gewinnern der Globalisierung. Ist dieser Erfolg bislang hauptsächlich auf die gestiegene Nachfrage in den BRIC-Staaten zurückzuführen, könnten sich zukünftig auch neue „Growing Economies“ wie die Türkei oder Mexiko zu interessanten Märkten entwickeln. Doch die globale Konkurrenz schläft nicht – 2012 will Hyundai beispielsweise sieben Millionen Autos weltweit verkaufen – und strebt in Richtung Weltspitze.
Auf den ersten Blick steht einer solchen Entwicklung der Megatrend Neo-Ökologie entgegen. Doch bei genauerem Hinsehen ist es gerade diese Entwicklung, die neue Rahmenbedingungen schafft und neue Chancen für die Automobilindustrie generiert. 77 Prozent der Deutschen bewerten Verbrauch und Umweltschutz für das Auto der Zukunft als sehr wichtig. Für 18 Prozent ist dieser Faktor zumindest wichtig. Und auch wenn beispielsweise die Neuzulassungen von E-Autos noch marginal ausfallen: Vor allem in Asiens Metropolen geht man von einer explosionsartigen Entwicklung der E-Mobilität in den kommenden Jahren aus. Chinas Autoindustrie setzt daher alles (an Geld und Ingenieurskunst) daran, bei elektrischer Mobilität ganz vorne dabei zu sein. Nicht umsonst beteiligt sich auch die chinesische Metropole Guangzhou an der Testphase des Unternehmens „Better Place“. Dabei handelt es sich um ein Businessmodell, bei dem ein flächendeckendes Angebot an Batteriewechsel- und Ladestationen mit Strom aus Windkraft- und Solaranlagen angeboten wird.
„Global Brands“ vermarkten ihre Produkte weltweit unter dem Motto „So global wie möglich, so lokal wie notwendig“. Das spart aufgrund einer hohen Standardisierung Produktionskosten und erlaubt andererseits, die regionalen Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Dass Procter & Gamble (82,6 Mrd. US-$ Umsatz 2011) Kosmetikartikel für afrikanische Staaten in kleinen Verbrauchsmengen auf den Markt bringt, damit sie vor Ort von den fliegenden Händlern verkauft werden können, ist heute ebenso Standard wie Fanta mit Wassermelonenaroma in Portugal und Spanien. Dies alles geschieht nicht zuletzt, um dem Kunden das Gefühl eines maßgeschneiderten Produkts zu vermitteln. Globalisierung nicht mehr nur ein Thema für „Global Brands" Auch die restlichen Komponenten des Marketing-Mix – Preis, Werbung und Vertrieb – können längst nicht mehr nach dem „One fits all“-Prinzip gemanagt werden. Louis-Vuitton-Taschen werden beispielsweise in Hongkong oder den Arabischen Emiraten in Shopping Malls verkauft, wohingegen dies in England das Luxusimage ruinieren würde.
Längst aber ist Globalisierung nicht mehr nur ein Thema, mit dem sich ausschließlich „Global Brands“ beschäftigen müssen. Aufgrund internationaler Migrationsbewegungen sind meist auch die Kundensegmente lokal agierender Unternehmen differenzierter geworden. Wer diese neuen Zielgruppen mit seinen Produkten und Dienstleistungen erreichen möchte, muss ihre Bedürfnisse und Vorstellungen kennen. Eine Möglichkeit dazu stellt gerade für lokale Unternehmen „Interkulturelles Marketing“ dar. In Europa hat sich herausgestellt, dass es einen großen Markt für Halal-Food (islamkonforme Lebensmittel) gibt. Als Vorreiter am Halal-Markt gilt Frankreich: Supermärkte wie Carrefour und Casino bieten muslimischen Kunden sogar spezielle Marken für Halal-Waren.
In Zukunft erleben wir auf dieser Basis eine breitere Auseinandersetzung mit regionalen und kulturellen Hintergründen. Nach einer Phase der globalen „Flachmachung“ erhält das Marketing, und auch die Produkte selbst, wieder mehr Ecken und Kanten, um sich der Vielfalt der Welt mit der geeigneten Fraktalität zu stellen.
Globalisierung bringt für deutsche Handwerksbetriebe und mittelständische Unternehmen keineswegs nur neue Risiken und Konkurrenten. Auch wenn der Druck durch billige Arbeitskräfte und Produkte aus dem Ausland steigt, eröffnen internationale Absatzmärkte im Gegenzug neue Möglichkeiten. Mehr als zwei Drittel der deutschen Unternehmen gaben bei einer Befragung des deutschen Industrie- und Handelskammertages 2011/2012 an, dass sie in den nächsten fünf Jahren ihr Auslandsengagement weiter intensivieren möchten. 72 Prozent der Betriebe wollen dabei vor allem Beziehungen zu Staaten der EU vor der Osterweiterung und zur EFTA-Region (Europäische Freihandelsassoziation) aufbauen. An zweiter Stelle unter den Zielregionen folgt bereits Asien. Hier plant jedes zweite Unternehmen, sich in den nächsten fünf Jahren stärker zu engagieren. Dabei geht es nicht nur um Export, sondern auch um Zusammenarbeit mit selbstständigen Kooperationspartnern sowie eigene Niederlassungen beziehungsweise Tochterunternehmen im Ausland.
Diese Präsenz auf internationaler Ebene stärkt häufig auch die inländischen Standorte. Neue Impulse und Umsatzsteigerungen durch Auslandsaktivitäten ermöglichten 2011 34 Prozent der auslandsaktiven Unternehmen, auch in Deutschland die Beschäftigung auszubauen. Eine besondere Chance bietet der internationale Markt auch für kleinere Mittelstandsunternehmen und das Handwerk, die in Nischen und kleinen Marktsegmenten eine glokale Führungsrolle einnehmen können. Zum einen inspiriert das Wissen über globale und lokale Erfolgsgeschichten, zum anderen ergeben sich neue Dienstleistungskonzepte auch auf Basis globaler und digitaler Vernetzungen.
Nur in Übersee die Wachstumsmärkte zu suchen wird für die Unternehmen in den kommenden Jahren zu wenig sein. Längst sind Südamerika und Asien die aufstrebenden Regionen der Welt, die mit eigenen Gedanken und Produkten auf die Märkte zielen. Die Chancen in den nächsten Dekaden liegen nun in gekonnten Partnerschaften, verstärktem Wissenstransfer (in alle Richtungen) und dem Aufbau von dezentral vernetzten Systemen. Auch die Notwendigkeit, sich kulturell und regional auszudifferenzieren und gleichzeitig global angeschlossen zu sein, prägt die kommenden Jahre. Der von uns bereits seit vielen Jahren verwendete Begriff der Glokalisierung wird damit noch mehr an Bedeutung gewinnen. Wesentlich für Unternehmen wird sein, in dieser komplexer werdenden Welt auch komplexere Antworten parat zu haben:
Die großen Herausforderungen und Chancen liegen darin, Wissen zu kapitalisieren und mit Know-how Ressourcen zu ersetzen: also zum Beispiel zu lernen, 100 Quadratmeter Wohnraum zu errichten, ohne 7,5 Tonnen Metall zu verbauen. Zu guter Letzt hilft dabei eine sich weiter entwickelnde Diversifizierung – ob im Management oder bei den Mitarbeitern von Unternehmen –, um sich den Aufgaben in einer globalisierten Welt noch besser stellen zu können.
Erkennen Sie die Trends, die den größten Einfluss auf den Megatrend Globalisierung haben.