4 Folgen der Digitalisierung für die Gesellschaft
Wie verändert die Digitalisierung unsere Kommunikation – und damit unser Leben, unsere Wirtschaft, unsere Organisationen?
1. Intransparenz
"Digitalisierung" bedeutet zunächst: Die Gesellschaft wird undurchschaubarer und unberechenbarer. Die algorithmischen Prozesse und Effekte der Computer sind für Menschen von außen nicht einsehbar, nicht verstehbar. Computer produzieren Intransparenz – und mit zunehmender Vernetzung prägt diese Intransparenz auch sämtliche unserer Aktivitäten.
Aus Abzählbarkeit, Berechenbarkeit und Steuerbarkeit werden deshalb Unüberschaubarkeit, Unberechenbarkeit und Unvorhersehbarkeit. Ein fundamentaler Wandel, auf den unsere Gesellschaft nur unzureichend vorbereitet ist.
Wie also lässt sich diese "entfesselte" Kommunikation kontrollieren? Eine entscheidende Rolle spielt dabei der Kontext der Gesellschaft, in dem diese Kommunikation mit Maschinen stattfindet. Das setzt ein fundiertes Verständnis der Kommunikation selbst voraus.
2. Überschusssinn
Niklas Luhmann zufolge enthält jede Kommunikation einen "Verweisungsüberschuss von Sinn": Sie verweist auf ihren jeweiligen Sinn im Kontext eines auch anders möglichen Sinns. Dieser "Überschusssinn" macht Kommunikation überhaupt erst möglich: Er macht sie anschlussfähig – indem er sie ablehnbar macht. Negierbarkeit ist deshalb eine Voraussetzung von und für Kommunikation. Auch die Widerstände gegen die Digitalisierung der Kommunikation sind daher eine Voraussetzung ihrer Durchsetzung.
Vor dem Hintergrund dieses kommunikativen Überschusssinns lässt sich Digitalisierung verstehen als Beginn einer neuen Medienepoche, die sich ihrerseits mit vorigen Medienepochen vergleichen lässt. Die Frage lautet dann: Wie ist es der Gesellschaft jeweils gelungen, den neuen Überschusssinn strukturell und kulturell zu kontrollieren?
3. Verbreitungsmedien
In der Evolution der menschlichen Gesellschaft lassen sich vier Epochen unterscheiden – verbunden mit vier dominanten Verbreitungsmedien: Sprache, Schrift, Buchdruck, Computer. Diese Verbreitungsmedien produzieren jeweils einen kommunikativen Überschusssinn, der alle anderen sozialen Phänomene zur Anpassung nötigt.
Die Gesellschaft reagiert auf den Überschusssinn ihrer Verbreitungsmedien immer auf die gleiche Weise: indem sie den Vergleichsraum möglicher Kommunikation erweitert oder einschränkt. Für jeden Verweisungsüberschuss muss die Gesellschaft also eine Strukturform finden, die garantiert, dass die Verteilung der jeweiligen Kommunikationsmöglichkeiten akzeptiert wird. Und sie muss eine Kulturform finden, die bestimmte soziale Phänomene in der Differenz zu anderen definiert.
Für alle vier Medienepochen gilt: Jeder neu auftretende Verweisungsüberschuss und jede Suche nach einer neuen Struktur- und Kulturform der Gesellschaft erzeugt strukturelle und kulturelle Desorientierung, und das heißt auch: innovative Übertreibungen und kulturkritische Widerstände. "Gelöst" werden kann das Problem des Überschusssinns nur durch neue Orientierungsmuster Digitalisierung bedeutet damit auch: Es müssen neue und andere Lösungen gefunden werden für alle Probleme, die vorige Gesellschaften bereits gelöst haben und Semantiken. Das wiederum ist nur möglich in einem experimentellen Prozess, der "Krisen" mit sich bringt, auch im Fall der Digitalisierung.
Digitalisierung bedeutet damit auch: Es müssen neue und andere Lösungen gefunden werden für alle Probleme, die vorige Gesellschaften bereits gelöst haben. Ohne ein Verständnis für die Dynamik früherer Gesellschaften lässt sich Digitalisierung nicht verstehen.
4. Netzwerkkomplexität
Zu den Referenzüberschüssen der vorigen Verbreitungsmedien gesellt sich in der nächsten Gesellschaft nun ein weiteres Problem des Überschusssinns: der Kontrollüberschuss des Computers. Dieser Kontrollüberschuss beschleunigt die Organisation von Komplexität und erhöht die Unbeständigkeit, weil zunehmend Maschinen an Kommunikation beteiligt sind.
Immer häufiger sind wir schon heute gezwungen, maschinell kommunizierte Informationen anzunehmen und Entscheidungen zu treffen, ohne die Quelle und Qualität der Daten überprüfen zu können. Das führt auch dazu, dass Maschinen so beschrieben werden wie zuvor Individuen: undurchschaubar, subjektiv und idiosynkratisch. Zugleich wird dem Kontrollüberschuss der Computernetzwerke die individuelle Autonomie entgegengesetzt: mit Hinweisen auf die menschliche Körperlichkeit, Verletzlichkeit und Irrationalität, mit neuen organisatorischen Spontaneitätspotenzialen wie "agiles Management", mit der Wertschätzung des Unprogrammierbaren.
Die Strukturform der nächsten Gesellschaft lässt sich als Netzwerk beschreiben: Prägend ist die hybride Kopplung heterogener Elemente – anstelle der funktionalen Rationalität, die noch die moderne Gesellschaft prägte. Das Netzwerk hat keine spezifischen Grenzen, es agiert jederzeit irritierbar und verknüpfbar.
Die Kulturform, die es ermöglicht, den Überschusssinn der Netzwerkgesellschaft zu kompensieren, lässt sich als Komplexität bezeichnen: Jede digitale oder digitalisierbare Kommunikation umfasst Heterogenes, Widersprüchliches – und erhält genau darin einen Sinn, der sich quasi selbst absichert. Das führt dazu, dass Unreduzierbarkeiten und Unvereinbarkeiten akzeptiert und gepflegt werden.
An die Stelle der kosmologischen und vernünftigen Ordnungen früherer Gesellschaften tritt deshalb in der nächsten Gesellschaft eine offene Ökologie: die Faszination der Komplexität als überraschende, potenziell flüchtige Ordnung. Und genau so lässt sich "Digitalisierung" verstehen: Das irritierbare Netzwerk und die überfordernde Komplexität werden zu Denkfiguren unserer Orientierung.
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