Betrachtet man die enge Verbindung zwischen Wirtschaftswachstum und CO2-Ausstoß, drängt sich der Schluss auf, dass es entweder nur die dringend nötige Reduktion von CO2 oder weiteren rasanten Wirtschaftswachstum geben kann. Selbst ein hochrangiger, UN-gestützter Bericht, der Ende 2014 versucht hat, ebendiese Schlussfolgerung zu widerlegen, bleibt den Beweis für eine mögliche absolute Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und CO2-Ausstoß schuldig.
Alles weist darauf hin, dass ein "grünes Wachstum" nicht möglich ist. Dank technischer Innovation und gesteigerter Effizienz lässt sich zwar durchaus eine relative Entkoppelung in vielen Bereichen beobachten. Diese ist jedoch aufgrund von Verlagerungseffekten und Rückkopplungen nicht auf die weltweite Gesamtwirtschaft übertragbar. Dies gilt umso mehr, wenn nicht nur CO2 Ausstoß, sondern auch andere, nicht minder wichtige ökologische Grenzen mitbetrachtet werden.
In Anbetracht dieser Faktoren mehren sich in Wissenschaft und Zivilgesellschaft diejenigen Stimmen, die einen Rückgang des Wachstums für unabwendbar halten – sei es "by design", also demokratisch und sozialverträglich gestaltet unter Berücksichtigung der Bedürfnisse aller, oder "by desaster", also ungeplant und verursacht durch Katastrophen, ausgelöst durch die ökologischen und sozialen Grenzen des Wachstums. Damit rückt die Frage in den Vordergrund, ob es erst Krisen unvorstellbaren Ausmaßes braucht, bis sich unsere politischen Systeme, wenn überhaupt, an eine Postwachstumsgesellschaft anpassen, oder ob wir es vorher schaffen, demokratische Mehrheiten für einen geplanten, weit reichenden gesellschaftlichen Wandel aufzubauen.
Giorgos Kallis und andere Vertreter der Degrowth-Bewegung gehen davon aus, dass Degrowth als positive Vision die Kraft haben könnte, solche Mehrheiten zu mobilisieren und gleichzeitig die Gesellschaft grundlegend zu verändern. Dabei ist Degrowth nicht zu vergleichen mit Rezession oder gar Depression, also einer Wachstumswirtschaft, die nicht mehr wächst. Mehr als um bloßen materiellen Verzicht geht es hier um ein völlig neues Verständnis von Wohlstand und gutem Leben und somit um einen Gewinn an Qualitäten, die in der wachstums- und wettbewerbsorientierten Gesellschaft zu kurz kommen: soziale Gerechtigkeit, Teilhabe, stabile soziale Beziehungen, Freiheit, Selbstwirksamkeit, Muße und die langfristige Sicherung unserer Lebensgrundlagen, um nur einige zu nennen. Degrowth zielt auch auf die Mitgestaltung der eigenen Lebenswelt in regionalisierten und miteinander vernetzen Wirtschaftskreisläufen und die Wieder-Bewusstwerdung der Einbindung des Menschen in die Natur.
Aus ökologischer Perspektive geht es vor allem darum, den Materialdurchsatz der menschlichen Aktivitäten, also den "sozialen Stoffwechsel", zu verringern. Aus sozialer Perspektive steht die Frage im Vordergrund, wie eine solche Verringerung sozial gerecht und zum Wohle aller gestaltet werden kann. Die psychologische Perspektive beschäftigt sich schließlich mit der "Entkolonialisierung der Vorstellungskraft" wie sie der französische Degrowth-Vordenker Serge Latouche fordert. Der deutsche Sozialpsychologe Harald Welzer spricht hier von unseren "mentalen Infrastrukturen", die tief in der Logik des Wachstums verwurzelt sind.
So ist Degrowth eine Vision oderkonkrete Utopie, die auf die Transformation aller Lebens- und Gesellschaftsbereiche abzielt. Es geht darum, all jene Institutionen und Bereiche aktiv zu verändern, die das Bruttoinlandsprodukt zum Ziel unserer Gesellschaft machen, inklusive unserer eigenen Innenwelten. Die Breite dieser Vision und die mögliche Vielfalt der darunter fallenden praktischen und theoretischen Ansätze und Bewegungen ist gleichzeitig Kritikpunkt wie auch Stärke von Degrowth. Denn wirklicher sozialer Wandel geschieht nicht durch Überzeugungsarbeit die auf die politisch Mächtigen abzielt, sondern durch kraftvolle Bewegungen von unten, die etablierte Denkmuster infrage stellen. Eine übergeordnete Vision, die eine Vielfalt solcher Bewegungen aufnehmen kann, entfaltet hier enormes Potenzial.
Nach Serge Latouche geht es um eine "selektive Wachstumsrücknahme"; um die Umverteilung von Ressourcen zwischen privatem und öffentlichem Konsum, innerhalb von und zwischen den Generationen. Eine solche Auswahl der Arten von Ressourcenabbau könne nur in Form einer breiten politischen Debatte stattfinden und sollte auf keinen Fall den Kräften des Marktes überlassen werden.
Da solche Debatten noch viel zu wenig in der breiten Öffentlichkeit geführt werden, sind konkrete Schritte, wie eine Wachstumsrücknahme aussehen könnte, noch bruchstückhaft und teilweise sehr unterschiedlich, angefangen von einem radikalen Ausstieg aus der Wirtschaft, über konkrete reale Alternativen wie Ökodörfer, Transition-Initiativen, solidarische Produktion und Tauschbörsen, Formen von direkter Demokratie bis hin zu Reformpolitiken auf Regierungsebene. Bei Reformansätzen geht es vor allem um die Umverteilung von Arbeit und Freizeit, natürlichen Ressourcen und Reichtum, um soziale Sicherheit und die schrittweise Dezentralisierung und Relokalisierung der Wirtschaft.
Giorgos Kallis hält jedoch konkrete Vorschläge, wie der Wandel hin zu Degrowth gestaltet werden kann, für unverzichtbar, um in breiteren Kreisen Überzeugungskraft zu entfalten. Forderungen wie zum Beispiel die 21-Stunden-Woche, so Kallis, können Bündnisse mit anderen gesellschaftlichen Akteuren schaffen und so Anknüpfungspunkte zu diesen bilden:
"Degrowth heißt nicht, die Uhr zurückzudrehen zu einer idealisierten Vergangenheit, die so niemals existiert hat. Es heißt vielmehr, die Mittel zu nutzen, die uns zur Verfügung stehen, um eine reife Zukunft zu schaffen, in der wir zufrieden leben mit wenig materiellen Gütern und einer Fülle von immateriellen, aus Beziehungen entstehenden Gütern. Die Sehnsucht nach einem einfacheren, sicheren und kommunalen Leben findet Anklang bei breiten Kreisen der Bevölkerung, weit über radikale Ökos hinaus."
Literatur:
Mark Burton: “Less levity Professor Stern! Economic growth, climate change and the decoupling question”, steadystatemanchester.net
Giorgos Kallis: "In Defence of Degrowth"
Christiane Kliemann: "Degrowth-movement refuted by climate-report? No, not at all!" Degrowth.de
Serge Latouche: "Es reicht" Oekom, 2015
Barbara Muraca: "Gut Leben" Wagenbach, 2014
Tilman Santarius: "Der Rebound-Effekt. Über die unerwünschten Folgen der erwünschten Energieeffizienz"
Harald Welzer: "Mentale Infrastrukturen: Wie das Wachstum in die Welt und in die Seelen kam"
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