Zukunftsthemen

Das Zeitalter der Langsamkeit

Geschrieben von Zukunftsinstitut | Dec 3, 2022 8:37:48 PM

An einem harten Tag im Büro greifen Manager heute zwischendurch gern mal zu Malbuch und Buntstiften: Das meditative Ausmalen kaleidoskopartiger Muster hilft Gestressten, sich aktiv auf eine Sache zu fokussieren und ästhetisch im No-Mind zu versinken. Unter den 20 meistverkauften Büchern auf Amazon befanden sich im Frühjahr 2016 ganze vier Ausmalbücher für Erwachsene. Sogar Stiftehersteller wie Staedler oder Schwan-Stabilo berichten von massiven Umsatzsteigerungen. Das Phänomen des "Adult Colourings" zeigt: Entschleunigung liegt im Trend – als bewusstes Gegengewicht zum digitalen Alltag.

Die Zeichen stehen auf Slow

Auch im Sachbuchmarkt kurbelt die Sehnsucht nach Entschleunigung den Umsatz an. Neben genereller Lebenshilfe à la "Slowing Down to the Speed of Life" findet sich immer speziellere Langsamkeitslektüre: von "Slow Travel and Tourism" über "Slow Rauchen" und "Slow Wine" bis zu "Slow Sex" bleibt kein Themenfeld unberührt. Selbst der Wegweiser zur entschleunigten Beschleunigung fehlt nicht: "Slow Down to Speed Up!"

Gerade hier zeigt sich aber auch der Kern des Trends: Denn gerade da, wo sich alles immer schneller dreht, blüht logischerweise auch das Geschäft mit der Entschleunigung. Das zeigt auch der lukrative Yoga-Boom: Metropolen wie Berlin, New York und London quellen schier über vor Yogaschulen, allein in Berlin gibt es mehr als 200 Yogastudios. Daneben drängen Startups auf den Markt, die Online-Kurse anbieten, unterwegs das passende Studio suchen oder smarte Yogamatten erfinden. Reiseanbieter spezialisieren sich auf Yoga-Retreats, der Handel mit Yoga Wear floriert. Etwa fünf Millionen Deutsche praktizieren regelmäßig Yoga. Das Wall Street Journal schätzt den Wert des Wachstumsmarkts auf 42 Milliarden Dollar, Tendenz steigend.

Wege in die Versenkung

Auch in der Medienlandschaft lässt sich der Slow-Trend ablesen: Im Zeichen der endlos rauschenden Streams kristallisiert sich eine Tendenz zurück zu Fokusmedien wie Büchern oder Magazinen heraus. Fokusinhalte funktionieren anders als sogenannte Diffusionsinhalte, die über Apps, Facebook und Co. konsumiert werden und stark geprägt sind von der Struktur ihrer Medien und Endgeräte: always on, häufig sprunghaft, kurzlebig und oberflächlich. Dementsprechend zerstreut sich die Aufmerksamkeit der Nutzer immer stärker. Sie wird diffus.

Im Gegensatz dazu setzen Fokusmedien auf Zeit-Benefits. Der amerikanische Werbeguru Seth Godin beschreibt sie deshalb als Slow Media: "Sie sind geduldig. Sie haben keine Deadline. Sie sind ruhig statt sensationslüstern, gehen in die Tiefe, anstatt an der Oberfläche zu kratzen." Diese Tendenz spiegelt sich auch in den Zeitschriftentiteln wider: Das Magazin Flow, das sich explizit der Entschleunigung verschrieben hat, erschien erstmals im November 2013 in einer Auflage von knapp 100.000 Exemplaren. Schon ein halbes Jahr später legte der Emotion-Verlag mit Slow nach. Ohne Werbekampagne verkaufte sich das Magazin aus dem Stand heraus 27.000 Mal, inzwischen erscheint es vierteljährlich mit einer Druckauflage von 60.000 Stück.

Langsam zu schnell!

In unserem Arbeitsalltag zerstören Anrufe und eingehende Mails oft die Möglichkeit, sich am Stück auf eine Sache zu konzentrieren. Auch im Privatleben werden Gespräche unter vier Augen oft von Whatsapp-Nachrichten oder Facebook-Updates regelrecht zerhackt. Immer weniger Menschen wollen sich den Störungen dieser Unterbrechungskultur unterwerfen. Startups und smarte Post-Tech-Unternehmen greifen diesen Wunsch auf, bauen Apps und Services, die das Bedürfnis nach Fokussierung clever bedienen – und geraten dabei mitunter auch unter Verdacht, eine Pseudokultur der "McMindfulness" zu fördern.

Foto: Jonas Breme / www.slowlistening.com

Das Berliner Post-Technologie-Startup (OFFTIME) hat – ausgerechnet – eine App entwickelt, die Konsumenten hilft, sich vom Nachrichtenstrom abzukoppeln und der permanenten Erreichbarkeit zu entfliehen. Mit cleveren Blockierungs-Mechanismen hält sie störende Anrufe, SMS oder App-Notifications fern, damit man sich für eine Zeitspanne nach Wahl in Ruhe auf eine Aufgabe konzentrieren kann.

Unsere schnelle und hektische Zeit spiegelt sich auch im Konsum von Musik wider: Musik wird heute oft nur noch passiv und beiläufig wahrgenommen. Um dem entgegenzuwirken und das Slow Listening zu fördern, hat Jonas Bremen mit Listen Carefully einen sensiblen, "störrischen" Kopfhörer entwickelt: Bei ruckartigen Bewegungen senkt er die Lautstärke der Wiedergabe und mahnt den Hörer, still zu sitzen, sich beim Musikhören zu entspannen und bewusst die Musik wahrzunehmen.

Alle Zeit der Welt

Die Ressource Zeit spielt in unserer Gesellschaft heute eine zentrale Rolle, diese Tendenz wird sich künftig noch verstärken. Auch der Megatrend Silver Society zeigt die Dringlichkeit einer neuen Konzeption von Entschleunigung an: In Europa werden 2030 mehr als die Hälfte der Menschen über 50 Jahre alt sein. Angesichts der demografischen Entwicklung hin zu einer alternden Gesellschaft wird es essenziell, die Eigenzeit von Individuen und Einstellungen zu respektieren, die von lebenserfahrenen, "reifen" Menschen geprägt werden.

Für viele Unternehmen wird es künftig eine essenzielle Aufgabe sein, das Thema Entschleunigung mitzudenken. Unabhängig von der Branche gilt es, einen eigenen Zugang zum Thema "Entschleunigung" zu finden. Wer für die Mitarbeiter und Konsumenten der Zukunft relevant bleiben will, sollte diesen Zugang in der Kommunikation der Marke und in der Unternehmenskultur erkennbar verankern.

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