„Immer mehr Deutsche fühlen sich einsam“, heißt es in immer mehr Studien – schon seit Jahren ist dies ein Teil des alarmistischen Angstgesangs. Aber was ist überhaupt „Einsamkeit“? Lässt sich ein solcher Begriff überhaupt statistisch abfragen? Diejenigen, die wahrhaftig einsam sind, werden es womöglich nicht zugeben – oder sind nur schwer aufzufinden. Diejenigen, die es nicht sind, werden unter Umständen behaupten, es zu sein. Entweder, weil sie damit den Anspruch verbinden, gehört zu werden, oder weil es in einer individualistischen Kultur auch ein bisschen chic ist, einsam zu sein.
Doch Einsamkeit ist in Wahrheit kein Gefühl. Sondern ein Erleben von Bezugslosigkeit. Ein Zustand, der Gefühle gerade verhindert. Gefühle sind von der Evolution „erfunden“ worden, um uns Informationen über uns selbst im Kontext unseres Weltverhältnisses zu übermitteln. Sie beschreiben unsere Position im Weltgefüge. Genau das geht aber in einer Depression, einer Welt-Dissoziation, verloren. Man kann sich selbst nicht spüren, man erkaltet innerlich. „In der Welt des Einsamen gibt es nichts, was sich vertraut anfühlt. Man ist fremd in der Welt“, so beschreibt es der Psychologe und Gefühls-Philosoph Michael Lehofer.
Menschliche Existenz ist Gesehenwerden. Wir existieren erst, wenn wir „wahr-genommen“ werden. Über Jahrtausende füllte die Religion die Leerstellen dieses existenziellen Bedürfnisses: Gott war „derjenige, der immer da ist“, als Tröster und ständige Präsenz, auch und gerade in der Vereinsamung. In der modernen Welt verschwindet Gott als wahrnehmende Instanz. Damit sind wir umso mehr auf unsere sozialen Verbindungen und Verbindlichkeiten angewiesen. Einsamkeit ist auch nicht Alleinsein. Eher das Gegenteil: Einsamkeit entsteht immer auch aus der Unfähigkeit, „allein“, also ganz mit sich selbst, sein zu können.
Zunächst scheint das Gegenteil der Fall zu sein, doch in gewisser Weise ist Einsamkeit das logische Resultat komplexerer Gesellschaften. In der Jäger-und-Sammler-Kultur, die den weitaus größten Teil der humanen Kulturgeschichte prägte, lebten Menschen in Gruppen, Clans, Sippen, Stämmen eng zusammen. Einfach weil sie anders nicht überleben konnten. Einsamkeit führte zum sicheren Tod.
Das begründet unseren ausgeprägten Drang zum Sozialen – sowie unsere Panik, aus dieser Sozialität herauszufallen. Und es erklärt auch, warum in einem hochindividualisierten Zeitalter Einsamkeit ein so dringendes Phänomen wird: Wir sind Stammeswesen, die in eine Kultur der unentwegten Differenzierung und Individualisierung hineingefallen sind, die viele Menschen überfordert. Das „Völkische“ ist nichts anderes als ein Rückfall in die tribale Sehnsucht, das bedingungslose Wir, das garantierte Zugehörigkeit verspricht.
Im Netz fühlen wir uns zwar alle immerzu angesprochen und wollen „gelikt“ werden – und werden gerade deshalb in immer tiefere Schichten von Einsamkeit gestoßen. Das liegt auch daran, dass das Internet die Sphäre des immerwährenden Vergleichs ist, des ewigen Rankings. Alles wird bewertet – und meistens abgewertet. Ein ständiger Vergleichskampf nach oben ist im Gange, den nur wenige gewinnen können: diejenigen, die sich am attraktivsten inszenieren können. Oder, im Kontrast: die am lautesten brüllen. Der Einsamkeits-Effekt der digitalen Medien entstammt der Pseudonymität der digitalen sozialen Kommunikation. Im Cyberraum werden wir alle zu Pseudonymen, die sich Intimität suggerieren.
Aber selbst Influencer oder Influencerinnen mit 2 Millionen Followern können sich ihrer „Geliktheit“ nie sicher sein. Schon morgen kann sie in Gleichgültigkeit oder gar Hasstiraden umkippen. Der narzisstische Charakter blüht in diesem Milieu der Bestätigungsreize, aber er bleibt stets unsicher, brüchig, selbstzweifelnd. Um die narzisstischen Konstruktionen aufrechtzuerhalten, muss die Dosis der geklickten Aufmerksamkeiten ständig erhöht werden, bis zum Ausstieg oder zur Selbstvernichtung. Die Opfer dieser Pseudonymität sind inzwischen zahlreich – humane Kollateralschäden mit tragischem Ausgang, blutjunge Menschen, die die digitale Demütigung nicht mehr ertrugen. Über diese Abstürze berichten heute viele Bücher, aber die wahren Dimensionen der Einsamkeitsmaschine Internet sind immer noch unbegriffen.
In der Politik entsteht derzeit ein Trend zum Gefühlsministerium. Das „Heimatministerium“ der CSU ist eine versuchte Antwort auf die Einsamkeitsgefühle der vielen, die sich zum wütenden Mob zusammentun könnten – oder es bereits tun. Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach forderte im Mai 2019 einen Regierungsbeauftragten oder eine Regierungsbeauftragte, der oder die sich um das Problem anhaltender Einsamkeit in der Gesellschaft kümmert – aus medizinischen Gründen. Bereits Anfang 2018 wurde Tracey Crouch die erste „Einsamkeitsministerin“ Großbritanniens. Die sozialen Spannungen Großbritanniens, sagte sie bei ihrer Ernennungsrede, hingen eng mit depressiven Einsamkeitsgefühlen zusammen.
Mehr als 9 Millionen Briten und Britinnen – 14 Prozent – fühlen sich immer oder oft einsam. In den USA liegt die Quote bei einem Drittel der Gesamtbevölkerung. In Japan führen viele Selbstmorde bei Älteren zur erhöhten Aufmerksamkeit auf das Thema der sozialen Vereinzelung. In den USA war es die Opiat-Sucht-Welle, die das Thema in die Medien und mehr und mehr in die Politik spülte. 2019 befragte das Meinungsforschungsinstitut Kantar Public 4.001 repräsentativ ausgewählte Personen in Deutschland, wie sie den gesellschaftlichen Zusammenhalt bewerten, ob sie sich sozial eingebunden fühlen und was sie von der Zukunft und der Politik erwarten. Richtig einsam fühlen sich demnach rund 14 Prozent.
Zunehmend geraten bei der Debatte über Heilungsmöglichkeiten der Einsamkeit die Stadtplaner und Stadtplanerinnen ins Zentrum. Der Urbanist und Soziologe William Foote Whyte studierte schon in den 1980er-Jahren die Architekturen der öffentlichen Räume und entwickelte eine Methode namens „Triangulation“, bei der es um die Vermeidung von Einsamkeits-Ursachen und verbesserte urbane Sozialstrukturen geht. Whyte entwickelte „Settings“, in denen Menschen besser miteinander kommunizierten und sich zu Interessengruppen verbanden. Ähnliche Ansätze verfolgen seit Jahren die „Kopenhagenisten“: die humanistischen Stadtplaner der skandinavischen Städte, die inzwischen auch weltweit arbeiten, etwa Jan Gehl oder Bjarke Ingels und sein Studio BIG.
Zahlreiche Städte und Kommunen beginnen gerade, die Herausforderung Einsamkeit anzunehmen. So stellte die Stadt Frome im Südwesten Englands 550 „Community Connectors“ ein, die Menschen und Institutionen miteinander in Kontakt bringen. In Los Angeles experimentiert man mit „People Walkers“, die mit Einsamen Spaziergänge durch die Stadt unternehmen und dabei Engagements erzeugen und Initiativen vermitteln sollen. Die „smarten Städte“ der Zukunft leben weniger von Künstlicher Intelligenz und fliegenden Autos als von sozialen Intelligenzen, in denen Kieze und Quartiere als lebendige und integrative Stadtteile eine Renaissance erleben. Die Architekturen der Zukunft werden sich daran messen müssen, was sie gegen die vielleicht größte Seuche unserer Zeit bewirken können.
In gewisser Weise ist all das nicht neu. Seit es die Moderne gibt, kursieren die Klage und Anklage der Vereinsamung. „All the lonely people, where do they all come from?“, sangen schon herzzerreißend die Beatles. Wie also ließe sich die Einsamkeit der Moderne überwinden?
Zunächst dadurch, dass wir sie akzeptieren. Einsamkeit ist ein Teil des Möglichkeitsraums der modernen Gesellschaft, in der das Ich – oder das Selbst – eine andere Rolle spielt als in der Massen- und Klassengesellschaft der alten Zeit. Mehr denn je kommt es auf „Selbsttechniken“ an – auf die Fähigkeit, sich selbst, seine Gefühle zu verstehen, zu moderieren, in Kontext zu setzen. Diese „Selfness“-Intelligenzen sind in der Individualismuskultur, die in den vergangenen Jahrzehnten im Zuge des großen Wohlstandsbooms entstand, nie entwickelt worden. Die Achtsamkeitsbewegung versucht nun, Antworten auf die Lücke zu formulieren, die die Übermedialisierung und Überreizung in uns hinterlässt. In den vielen angebotenen Psychotherapien spielt heute ein reifer, erwachsener Begriff von Individualität eine zunehmende Rolle, bei dem es nicht nur um „Selbstverwirklichung“ im Sinne der Entfaltung der eigenen Wünsche geht.
Schrecklich wird das Leben, wenn wir den Kontakt zu uns selbst verlieren. Misslingt auf diese Weise das Individuelle, entsteht oft nicht mehr nur Stummheit, sondern Hass und Aggression. Die Folge ist der neue Kulturkampf zwischen Land und Stadt, Provinzialität und Kosmopolitismus. Der Kampf der „Somewheres“ gegen die „Anywheres“ – das ist auch der Krieg der Sozialtechniken, der Kommunikationskompetenzen. Und ihres Mangels.
Wie jede soziale Tendenz hat auch der „Trend Einsamkeit“ einen massiven Gegentrend. Die neuen Gemeinschaftsformen sind längst spürbar und formen sich langsam zur Bewegung: Co-Gardening, Co-Working, Co-Living, Co-Mobility. Solche Lebenskonzepte wollen eben nicht zurück in ein unverbrüchliches Kollektiv, in den sicheren Stamm. Sie wollen die Individualität vorantreiben, um auf einer höheren Ebene das reifere Ich mit der flexiblen Gemeinschaft zu verbinden. Es geht um einen rückgekoppelten Individualismus, der seine Heimat in der Resonanz mit anderen und in der Differenzierung des eigenen Selbst findet.
Das ist das große individualpolitische Projekt der Postmoderne, das wahre Versprechen der Zukunft: Wir sind alle auf unsere Weise einzigartig, wertvoll, liebenswürdig – und wir sind alle angewiesen auf Verbundenheit und Verbindung. Es geht um einen Neo-Humanismus, der den alten Traum vom sozialen Fortschritt auf eine neue Weise lebt: als Utopie der Selbstentfaltung, der Selbstfindung in einer sozial reicheren und vielfältigeren Welt.