Zukunftsthemen

Das leise Comeback des Landes

Geschrieben von Zukunftsinstitut | Dec 16, 2023 10:02:59 AM

Unablässig erhöht sich die Leuchtkraft der Städte. Unwiderruflich wachsen die „Schwarmstädte“, in denen Kreativität und Komplexität ein abwechslungsreiches Leben bieten. Während der Megatrend Urbanisierung Menschen, Ideen und Arbeit in die Metropolen saugt, fallen gleichzeitig ganze Landstriche der Ödnis, Frustration und Verlassenheit anheim. In den vernachlässigten ländlichen Flächen verabschiedet sich die Zukunft. Schulen werden geschlossen, Buslinien gekappt, der Populismus grassiert ... Ist der ländliche Raum dem Untergang geweiht?

Zum Basiswissen der Zukunftsforschung zählt auch die Erkenntnis, dass jeder Trend irgendwann einen Gegentrend erzeugt. In den nächsten Jahren wird sich deshalb die Sehnsucht nach Urbanität wieder umkehren: Dörfer, Kleinstädte und ländliche Regionen können eine Renaissance erleben. In den Konzepten der Progressiven Provinz finden Beziehungsqualität und Weltoffenheit auf neue Weise zusammen – und erzeugen eine neue Vitalität des Lokalen.

Es gibt 2 Arten von Provinzen

Schon heute gibt es Regionen in Deutschland und Europa, die von ihrer Topografie her Provinz sind – sich aber mitten in einem vitalen Aufstieg befinden. Abgelegene Dörfer, in die plötzlich das Leben einkehrt. Denn längst verläuft der Bruch zwischen den Gewinnern und den Verliererinnen der Urbanisierung zwischen den Regionen. Deshalb gibt es zwei Provinzen: In der einen verkriechen sich die Bewohnerinnen und Bewohner in Passivität und Opfermentalität, in der anderen aber herrscht ein Klima der Offenheit und des Wandels. Hier hat sich eine kulturelle Urbanisierung durchgesetzt und mit Qualitäten des Dörflichen synergetisch verwoben. Kooperative Empathie, eine engmaschige Sozialstruktur und Wir-Kultur ohne die chaotisierenden Nachteile der Großstadt. Solche Orte wollen es wissen. Sie reinnovieren sich selbst – und plötzlich steigt die Einwohnerzahl wieder an! Überall entstehen Resonanzregionen und Zukunftsdörfer.

Corona in Kombination mit der endgültigen Normalisierung von Remote Work macht das Land zur neuen Stadt, zum Sehnsuchtsort, der nun zum Greifen nah scheint – mit dem Versprechen nach mehr Raum und Lebensqualität. Digitalisierung ist Grundbedingung für das Aufstreben der neuen Zukunftsregionen. „Agronica“ nannte der italienische Architekt Andrea Branzi einmal den von den Bedingungen der elektronischen Kommunikation umgestalteten ländlichen Raum. Aber das Internet allein kann die Verödungsgefahr nicht bannen. Dörfer und kleine Gemeinden sind – so wie die großen Städte – soziale Organismen, die in ihrem Wesen aus Kommunikation bestehen, aus Beziehungen. Das Netz löst Verbindungsfragen, aber keine Beziehungsfragen. Deshalb ist die Frage, wie Transformationslandschaften und Resonanzregionen entstehen, vor allem eine Frage nach den Beziehungen der Bewohner und Bewohnerinnen.

Land-Stadt-Beziehungen: Ein Rückblick

In der Hoch-Zeit der industriellen Ära, in den 1960er- und 1970er-Jahren, war der Zyklus noch eindeutig: Man verließ das spießige Elternhaus in der Provinz, um in der großen Stadt Bildung und Vielfalt zu leben. Um dann, wenn die Familiengründung anstand, an den Stadtrand zu ziehen: Suburbia – das Reich der Reihenhäuser und Carports, der anonymen Einkaufszentren und Rübenäcker. Auch wenn in Europa die Vorstädte nicht in der gleichen Weise wucherten wie in den USA, bilden sie auch hierzulande das Niemandsland, in dem die sozialen und emotionalen Transformationen zum Stillstand kommen. Suburbia, das ist weder Fisch noch Fleisch, oftmals nur ein Schlafort ohne soziales Leben, oder ein Ersatzort, an dem man sich nie heimisch fühlt. Weil weder das Lebendige noch das Gewachsene existiert.

In den 1990er-Jahren begann dann die postindustrielle Metamorphose der Großstädte von innen heraus. Der neue Urbanismus brachte ein neues Stadtgefühl, eine enorme Steigerung urbaner Lebensqualität. Kunst und Kultur erlebten einen beispiellosen Boom, neue, oftmals spektakuläre Architektur belebte die Stadtzentren und brachte die kreative Klasse, das neue Milieu der Cultural Creatives, an die Stelle des alten Bürgertums. Dazu kam eine „Ergrünung“ des Urbanen – Fahrräder waren nicht mehr nur Hindernisse für Autos, und die Natur wurde zögerlich und gezähmt zurück in die Städte geholt. Das führte zu einer Rückkehr der Stadtflüchtigen und Zweitwohnbesitzerinnen, die die unwirtlichen Städte in den 1980ern für die Hütte in den Bergen, das Bauernhaus in der Toskana oder die Finca in Spanien (zeitweise) verlassen hatten.

Heute scheint sich eine neue Krise des Urbanen abzuzeichnen. Stichwort „Wohnungsnot“. Die Pandemie hat die großen Nachteile des städtischen Lebens für alle sichtbar und spürbar gemacht. Für immer mehr Menschen ist Stadtflucht plötzlich ein Thema. Aber der Schein trügt. Zwar scheint die starke Welle der Urbanisierung, die seit der Jahrtausendwende die Städte wachsen und die Kleinstädte und Dörfer (weiter) schrumpfen ließ, an ein Ende zu kommen. Aber die Entwicklung ist weder eindeutig noch homogen.

Es entwickeln sich neue Mischformen, Synthesen jenseits der Kategorien von Urbanität/Suburbanität/Provinz. Das hat zum Teil mit dem Internet zu tun, mit den neuen Möglichkeiten der Vernetzung. Aber eben nicht mit Ortlosigkeit, sondern mit einer Wiederentdeckung des konkreten Ortes als Lebensraum, in dem eine Vielfalt von sozialen Bedürfnissen erfüllt werden kann. Es geht um die Überwindung der scheinbar ausweglosen Dichotomie „urbane Vereinzelung und Anonymität“ versus „dörfliche Enge“.

Die Kraft der kooperativen Empathie

Der Mensch ist ein Bindungswesen. Städte sind ein soziales Risiko. Wenn man es schafft, in der Dynamik einer Großstadt heimisch zu werden, lässt man sozusagen sich selbst hinter sich – eine psychosoziale Transformation, die das Leben von Grund auf verändert. Nicht jeder und jede schafft das. Viele scheitern an der Überfülle, der Anonymität, dem Konkurrenzkampf. Sie werden einsam, mitten im Getümmel der Metropolen. Die Sehnsucht nach Intensität, Individualität und Selbstverwirklichung zieht die Menschen in die Stadt. Aber wenn eine Lebensbiografie in städtischer Entfremdung stockt, wenn man in einer bestimmten Lebensphase das Tempo nicht mehr halten kann, dann werden neue Pläne geschmiedet: das kleine Haus an der Côte d’Azur, die Hütte in der Uckermark oder das Wochenendhäuschen in der nahegelegenen Provinz. Dann wird mit unendlicher Geduld der Bauernhof in Brandenburg renoviert. Dort, wo die Kinder glücklicher aufwachsen sollen und die Erwachsen endlich entschleunigen, fern von Beton, Lärm und Verkehrsstress.

Solche Idyllen-Träume scheiterten oft an individuellen Überforderungen, an der Illusion von Autonomie, die oftmals ein Resultat innerer Verbitterungen ist. Die nächste urbane Exodus-Welle wird deshalb anders verlaufen: Es geht nicht um Flucht, sondern um das Ankommen. Es geht nicht um die Landlust-Apfelkuchen-Romantik, die immer nur eine städtische Halluzination ist, sondern um eine dynamische soziale Nähe, die in kleineren Lebenseinheiten besser zu finden ist. Es geht im Kern um ein neues regionales oder dörfliches Selbstbewusstsein, das auch Rückkehrende und Neuankömmlinge integrieren kann.

Während Dörfer und Kleinstädte früher versuchten, mit durchbetonierten Gewerbeparks an die urbane Welt anzuschließen, überwindet die nächste Phase der Provinzrenaissance die Topografie der Industriegesellschaft. Gerade die Wissensgesellschaft eröffnet dem Neo-Lokalen neue Märkte und Chancen, sowohl im Boom der Lebensqualität (von Biolandbau bis Gourmet-Bauernhof) als auch im menschlichen Beziehungswesen (von Gesundheits- und Therapieleistungen bis zu Sport und Naturerleben). Design, Architektur und Kunst sowie Gastronomie und Handwerk können gerade in der tiefsten Provinz die entscheidende vitalisierende Rolle spielen.

Technologie ist wichtig, aber nicht alles. Im Kern der ruralen Renaissance stehen die lebendigen Beziehungen zwischen Menschen. Längst sind es nicht mehr nur Fußballvereine und freiwillige Feuerwehren, die die ländliche Zivilgesellschaft ausmachen. Längst gibt es auch Yogagruppen, Segelflugvereine, Foodies, Weltverbesserer, Postwachstumspioniere und Unternehmer-Clubs. Kleinstädte, Dörfer und Regionen können sich selbst neu erfinden, wenn sie ihre sozialen Potenziale heben: Der Standortvorteil gegenüber der Großstadt ist die kooperative Empathie.

Dieser Text ist ein Auszug aus der Studie Progressive Provinz – Die Zukunft des Landes.

Bildcredits: Clark Young | Unsplash