Hört man Tyler Whites Schlagzeug-Perfomance zu, fällt zunächst nichts Besonderes auf. Es klingt, schlägt und scheppert wie ein ganz normales Schlagzeug. Erst im zweiten Moment wird klar, dass gerade mehr Noten zu hören sind als eigentlich möglich. Schaltet man das Video dazu, zeigt sich des Rätsels Lösung: Tyler hat drei Arme. Natürlich nicht drei echte – ein zusätzlicher Maschinenarm, der an seiner rechten Schulter befestigt ist, unterstützt ihn beim Spielen. Er bewegt sich beinahe wie seine Gegenstücke aus Fleisch und Blut und hält den Takt, selbst als Tyler der Rhythmus ändert.
Was auf den ersten Blick wie eine Spielerei wirkt, hat enormes Potenzial. Befragt man Gil Weinberg, den Entwickler des Schlagzeugarms, fällt es ihm schwer, seine Begeisterung zu verbergen. Er sieht in der Augmentierung von Menschen durch Roboteranteile die Zukunft. Diese Entwicklung würde es den Menschen künftig erlauben, auf ganz neue, fortschrittliche Art und Weise mit ihrer Umgebung zu interagieren.
Warum Weinberg Musik als Startpunkt für diese "Revolution" ausgewählt hat? Musik ist ein Feld, in dem der Roboter einem Stresstest unterzogen werden kann. Beim Schlagzeugspiel ist Millisekunden-Timing gefragt. Der Arm muss sich blitzschnell neuen Bedingungen anpassen, wenn der Drummer den Stil wechselt oder langsamer spielt und darf ihm auf keinen Fall in die Quere kommen. Er soll ihn schließlich verbessern und nicht behindern. Außerdem muss der künstliche Arm eine Form von Pseudo-Kreativität aufweisen, denn schließlich ist einem guten Drummer mit einem zusätzlichen Arm nur geholfen, wenn dieser mehr als simple Patterns spielen kann. Diese Kompetenzen sind dem Roboterarm bereits einprogrammiert, den Rest lernt er – im wahrsten Sinne des Wortes – spielend. Über die Zeit gewöhnen sich laut Weinberg Mensch und Maschine sogar so sehr aneinander, dass es sich für den Musiker beinahe so anfühlt, als sei der Arm tatsächlich ein Teil seines Körpers.
Für Menschen, denen ein Körperteil fehlt, sind Roboterarme keine Spielereien, sondern Technologien, die das Leben verändern können. Auf dem Gebiet der bionischen Prothesenforschung werden seit Jahren konkrete Fortschritte erzielt. So gelang es Weinbergs Team bereits 2014, für einen jungen Musiker, der einen Arm verloren hatte, eine Schlagzeugprothese mit zwei Drumsticks zu entwickeln.
Todd Kuiken, Direktor des Center für Vionic Medicine in Chicago, entwickelt derzeit mit seinem Team eine Armprothese, die nicht nur wie ein Arm kontrolliert werden kann, sondern sich mithilfe von Nerventransplantationen wie ein echter Arm anfühlen soll. Zeitgleich forscht Hugh Herr, Freeclimber, Ingenieur und Biophysiker – und selbst Träger zweier bionischer Beine, an bionischen Prothesen, die Menschen helfen soll, ihre Schicksalsschläge zu überwinden. Für ihn sind die grundlegenden physischen Funktionen ein Menschenrecht – die Technologie muss dazu dienen, sie allen Menschen zu ermöglichen, die durch Unfälle oder Krankheit benachteiligt sind.
Der Gedanke, Prothesen seien reine "Ersatzteile" für einen beschädigten oder behinderten menschlichen Körper, wird dadurch zunehmend obsolet. In der Prothesenforschung findet ein Umdenken statt, hin zu einem neuen, durch bionische Prothesen verbesserten Körper und Körpergefühl.
Techniken wie der 3D-Druck helfen, diese Prothesen zunehmend menschlicher zu gestalten und exakt an die Körper der Patienten anzupassen. Selbst Blindheit soll bald mit bionischen Augen begegnet werden, die keine Kurzsichtigkeit und keinen Grauen Star kennen.
So verschwimmt die Grenze von Prothetik und Enhancement immer stärker. Auch gesunde Menschen können Gil Weinbergs Zusatzgliedmaßen oder Hugh Herrs Exoskelette nutzen, um ihren natürlich begrenzten Spielraum zu erweitern. Aus technischer Sicht ergeben sich künftig immer mehr Möglichkeiten, den menschlichen Körper mit Technologie auszustatten und ihm dadurch neue Fähigkeiten zu verleihen. Die zentralen Fragen, die sich daraus ergeben, werden weniger technischer als ethischer und philosophischer Natur sein.
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