Zukunftsthemen

Das postdigitale Zeitalter

Geschrieben von Zukunftsinstitut | Apr 5, 2024 7:00:04 AM

Vor 20 Jahren schaltete eine unbekannte Firma namens Google ein Suchmaschinenprogramm für vernetzte Computer frei. Schon ein Jahr später erreichte es 1 Milliarde Anfragen. Seitdem hat sich die Welt – oder eher: unsere Wahrnehmung der Welt – in unfassbarer Weise verändert.

„Digitalisierung“ ist der revolutionäre, quasi-religiöse Mythos unserer Tage. Im Namen des Digitalismus, der Ideologie gewordenen Computerisierung, wird uns die ständige Umwälzung aller Verhältnisse versprochen – und angedroht. Kein Stein bleibt auf dem anderen! Das menschliche Bewusstsein wird radikal verändert! Am Ende übernimmt die Künstliche Intelligenz (KI)! Das ist das dominante Narrativ aller Zukunftskonferenzen, das Super-Mem unserer heutigen Zukunftsbilder. 

Aber könnte es nicht auch ganz anders werden? Könnte es sein, dass wir uns bereits hinter dem Peak Digital befinden, dem Höhepunkt der digitalen Dynamik? Mitten in einer digitalen Revision, in der der Tanz zwischen Mensch und Maschine eine neue Drehung nimmt? In den USA spricht man bereits vom „Techlash“

Um die neue Richtung zu bestimmen, brauchen wir einen neuen Kompass, eine nicht technikfeindliche digitale Aufklärung. Und den Abschied von der fixen Idee, dass sich die ganze Welt in Nullen und Einsen auflösen lässt. 

1. Digitale Traurigkeit

Der kanadische Schriftsteller Douglas Coupland wurde durch den Weltbestseller „Generation X“ berühmt – seitdem machen wir uns Gedanken über die Befindlichkeiten von X-, Y- und Z-Generationen. Seit einigen Jahren arbeitet Coupland auch als Künstler. Der inzwischen 57-Jährige produzierte eine Reihe von Schrifttafeln mit melancholischen Parolen wie „Waiting for the Singularity is Getting Dull“„So. Much. Porn.“, oder „No Face Detected“. Besonders eine Parole brachte es zu Berühmtheit: „I Miss My Pre-Internet Brain“.

Douglas Coupland ist kein Technikfeind. Er ist mit dem Mac groß geworden und nutzt für seine Kunst ausgiebig digitale Applikationen. Aber geht es uns nicht allen manchmal so – dass wir uns im Zeitalter des Digitalen entsetzlich verloren fühlen? Was vermissen wir? Das Klappern von Schreibmaschinen und die Beschränkung auf nur drei Fernsehprogramme? 

Was Coupland mit seiner lakonischen Parole berührt, ist eine weitverbreitete Trauerarbeit. Das Vor-Internet-Hirn schien auf eine bestimmte Weise stimmiger zu funktionieren. Wir wussten besser über uns selbst Bescheid: wer wir sind, was wir sein wollten. Unsere Identität schien klarer, und die Welt verlässlicher – selbst wenn sie nie heil war. 

2. Der Terror der Klicks

Um die Auswirkungen der Netzkommunikation auf uns alle zu verstehen, benötigen wir zwei zentrale Erklärungsparameter: einen ökonomischen und einen neuropsychologischen. 

Die Ökonomie digitaler Kommunikationssysteme lässt sich als einfacher Algorithmus darstellen, als Formel der akkumulierten Klicks. Wie viel FacebookSpiegel Online oder jede beliebige Webseite einnehmen – nämlich an Werbetantiemen –, richtet sich ausschließlich nach der Anzahl der Nutzer und ihrer Klicks. Wie viel ein Instagram-Influencer verdient, wie einflussreich er ist, entscheidet sich nach der Zahl seiner Follower. Für Jaron Lanier, den Pionier der virtuellen Realität, ist diese „Klickonomie“ die Ursünde des Netzes. Er rät uns, die sozialen Medien sofort abzuschalten. Weil sie in ihrem inneren Wesen Manipulationsmaschinen sind: Systeme, die uns süchtig und unmündig machen sollen.

Das schreckliche Gefühl, nicht mehr zu wissen, was Realität ist, hängt eng damit zusammen. Im digitalen Kommunikationsuniversum, das längst auf die traditionellen Medien übergegriffen hat, sind wir umlagert von Clickbaits: Reizen, die unsere Aufmerksamkeit triggern sollen. So entsteht eine geisterhafte Welt aus Sex, Katzen, Kindern, die auf Rutschen verunglücken und dabei spaßig aussehen, Korruptionen, Apokalypsen und Verschwörungen. Ausgebeutet wird die einzig entscheidende Knappheitsressource der Informationsgesellschaft: menschliche Aufmerksamkeit. 

Die Substanz, die all dies erst möglich macht, ist das Dopamin, das wichtigste menschliche Motivationshormon. Menschen sind Bindungswesen. Die Evolution hat uns einen fundamentalen sozialen Belohnungsmodus mit auf den Weg gegeben. Unser soziales Hirn funktioniert wie eine Suchmaschine für Resonanz. Jedes Mal, wenn wir uns gewollt und anerkannt fühlen, schüttet unser Organismus Dopamine und Endorphine aus – Belohnungs- und Entspannungsmoleküle, die uns in einen Zustand der Selbstrealisation versetzen: Jemand sieht uns, also sind wir! 

„Ein Like ist in den meisten Fällen ein situatives, digitales Gemeinschaftsgrunzen, dessen Bedeutung an der Grenze zum Nichts entlangtänzelt“ – so elegant formulierte es Sascha Lobo (Lobo 2018). Genau das macht den Horror vacui des Netzes aus. Im Netz sind wir Opfer einer Pseudonymität, die uns verrückt macht, weil wir nie wissen können, ob wir wirklich gemeint sind. Das Netz produziert, wenn wir uns wirklich darauf einlassen, am laufenden Band existenzielle Identitätsunsicherheiten, die sich in immer neuen Pathologien wie Narzissmus, Fake News und Hass entladen. 

3. Atomisierung

Das wunderbare Wesen des Internets, so heißt es seit 20 Jahren euphorisch auf jeder Tech-Konferenz, ist die Verbindung. Es bringt Menschen, Geld und Ideen, Initiativen, Weltrettungen zusammen. Alte Freunde können sich über das Netz wiederfinden, Anglervereine und Plastikmüllvermeider ihr Wissen austauschen. All das ist wahr. Aber gleichzeitig wächst das Reich einer schattenhaften digitalen Einsamkeit.  

Seit viele Festnetzleitungen stillgelegt sind und Anrufbeantworter ins Leere piepen, herrscht ein seltsames Schweigen im ständigen Pling. Viele, mit denen man früher auch über Zeit und Raum hinweg verbunden blieb, sind plötzlich verschwunden. Das Netz teilt Menschen in Kommunikationsuniversen, die sich voneinander entfernen wie die Galaxien im Weltall.

Da sind die unermüdlichen E-Mailer, die ihre Botschaften rund um kopierbare Höflichkeiten und geschäftliche Interessen strukturieren. Da sind die Facebooker, deren Leben vom Mitteilungsdrang der eigenen Befindlichkeit geprägt ist. Da sind die Instagrammer, die das Private ins Unendliche ästhetisieren und kommerzialisieren. Da sind die WhatsApper, die in einer Echtzeit-Familienwelt leben und alle für ihre Emoji-Familie halten. Bildeten diese Universen bis vor Kurzem noch Schnittmengen, driften sie heute zunehmend auseinander. Es ist, als ob wir alle nur noch beim Autofahren telefonieren, wo wir immer mehr Tunnel durchfahren – hallo! Hallo! HALLO, SPRICH LAUTER!

Johann Hari hat mit seinem Bestseller „Lost Connections“ das Zerbröseln der sozialen Bindungen als den wahren Grund für die Depressionskrise Amerikas herausgearbeitet, die letztlich zu Trump führte. Die Grundkrankheit unserer Zeit, so Hari, wird vom Verlust stabiler Beziehungen erzeugt, die wir durch flüchtige, operative Impulse ersetzen. Die wahre Geißel der Neuzeit ist die Einsamkeit, die durch digitale Un-Verbindlichkeit verschärft wird. Das Netz löst jede Menge Verbindungsfragen. Und dabei stellt es uns immer neue unlösbare Beziehungsfragen. 

Die häufigste Frage, die an Amazons Sprachassistent Alexa gestellt wird, ist die Frage, ob sie beim Dating helfen kann (vgl. Mansholt 2018). 

4. Empörokratie: Wenn jeder ein Megafon hat

Immer, wenn ich durch Zufall auf die Kommentarseiten einer großen Website gelange, wundere ich mich: Woher beziehen MarkAurelius, Specimen2000, rülpsteufel7, #Habedieehre, gottseidank1, oledoledoffe, Flachlandprophet, cup01, Guerilla77, die-waage, Knack2345, Siebenschwanz und wie sie alle heißen diese unendliche Energie, millionenfach rund um die Uhr Meinungen über Meinungen von Meinungen zu posten? Sascha Lobo hat das einmal „die Vermeinung der Welt“ genannt.

Da ist zunächst ein simpler Geltungsdrang: Jeder möchte endlich mal gehört werden. Verständlich. Aber selten geht es wirklich um Meinungen im Sinne von Bedeutungen. Es geht um Affekte, um die im Moment empfundenen Defizite, Abneigungen, Ressentiments, Abwertungen. Um verbale Dominanzgesten und schlechte Laune, die man irgendwohin senden möchte.

Komplexe Gesellschaften sind auf einen offenen Raum angewiesen, in dem sich Konsens und Kontext bilden können, ohne verordnet zu werden. Die Agora der Griechen, das Forum der Römer, der Marktplatz des Mittelalters, die Zeitung als Vermittlerin von Bürgern und Macht, das Parlament (von parlare, sprechen), auch das Kaffeehaus oder sogar das Wirtshaus – all das sind die Tools des Zivilisatorischen, das auf alltägliche Gewalt verzichten will. Dafür braucht es Respekt- und Distanzformen, die auf Gewalt – auch auf verbale – verzichten.

Wer in ein Wirtshaus geht, um sein inneres Elend aggressiv loszuwerden, bekommt meistens eine eindeutige Reaktion, die seine Aktionen begrenzt. Im tobenden, „vemeinten“ Netz erodiert diese Grundlage menschlicher Begegnung. Wo jeder ein Megafon hat, gewinnt das Gesetz der eskalierenden Lautstärke: Wer am lautesten brüllt, kommt durch. Am Ende gewinnt der Troll. 

Der Philosoph und Psychiater Michael Lehofer schrieb in seinem Buch „Mit mir sein“: „Es lohnt sich nicht, sich in Meinungskriege einzumischen. Denn die Meinung ist in ihrem Wesen narzisstisch.“ (Lehofer 2017)

Im Jahr 1990 beschuldigte „KI ist nur künstliche Dummheit, wenn sie nicht im Sinne der richtigen Fragen (statt der falschen Antworten) entwickelt wird.“ Rumorville, einer der ersten digitalen Newsletter, seinen Konkurrenten Skuttlebutt, ein Betrüger zu sein. Skuttlebutt verklagte den Provider von Rumorville, Compuserve, für die Veröffentlichung falscher Nachrichten, heute würde man sagen: Fake News. Im Prozess fällte der Richter ein Grundlagenurteil: Ein Provider ist nicht verantwortlich für die Inhalte auf seiner Plattform. Mit diesem Urteil kämpfen wir noch heute. 

Die Empörokratie, in der wir seitdem leben, die Herrschaft des dümmsten Affektes, ist das Produkt einer systemischen Fehlsteuerung kommunikativer Systeme. In ihr ist das Medium, der Vermittler, ausschließlicher Profiteur von Botschaften, ohne jede Verantwortung und Moderation. Aber gerade das beginnt sich langsam zu ändern. 

5. Des Kaisers digitale Kleider

Im Sommer 2018 hielt Google seine jährliche Entwicklerkonferenz ab. CEO Sundar Pichai stellte im Stil pompöser Apple-Enthüllungen ein „sensationelles neues Feature“ vor: „Unsere Vision ist es, Menschen dabei zu helfen, Dinge zu erledigen. Es zeigt sich, dass ein großer Teil darin besteht, Telefongespräche zu führen … Wir arbeiten hart daran, Nutzern dabei zu helfen.“ (Google Developers 2018) 

Dann leuchtete der gewaltige Schirm hinter dem Google-Chef auf, und eine synthetische weibliche Stimme führte ein Telefonat mit einem Friseursalon. Mit vielen echt menschlich klingenden Ähs und Ähms wurde ein Termin für übermorgen vereinbart. „Das war ein wirkliches Telefonat! Unser Assistent kann inzwischen Nuancen jeder Konversation verstehen!“

Jubel, Beifall, das Video ging um die Welt, die Medien berichteten wie immer gruselfasziniert. Kaum jemand kam auf die Idee, dass hier des Kaisers digitale Kleider gepriesen wurden. Hat jemand ein Telefonat für einen Friseurtermin jemals als ein Problem empfunden, das man mit KI „lösen“ muss? Und macht man solche Termine nicht längst praktischer übers Netz?

Das Absurde ist, dass man sich solche Fragen gar nicht mehr stellen kann. Das Digitale übt eine Art Hypnose aus, in der wir wie die Kaninchen auf Schein-Wunder starren. Bei einer ähnlichen Innovations-Show zeigten die Chefs von LG die „neue Smartphone-Intelligenz“ des koreanischen Konzerns. Ein junger Mann spricht mit seinem smarten elektronischen Style-Berater, es geht um die Grillparty am Abend: „Im T-Shirt wird mir kalt, ich habe Schnupfen“, sagt der Mann. Der automatisierte Style-Berater empfiehlt einen Schal. „Den habe ich verloren. Kauf mir einen neuen, der so ähnlich aussieht!“ Das Motto: Upgrade your life infinitely!

Die Beispiele zeigen: Die digitale Evolution steckt längst in einer Grenznutzen-Krise – in dem, was der amerikanische Internet-Kritiker Evgeny Morozov „Solutionismus“ nennt: Löseritis – Technik auf der verzweifelten Suche nach Problemen. Die Umdrehung des Spruches, demzufolge moderne Technik nicht von einem Wunder zu unterscheiden ist, besteht darin, dass sie hemmungslos Banalitäten simuliert.

Die reale Innovationsrate – im Sinne realen Mehrwerts – von digitalen Geräten verlangsamt sich seit etwa fünf Jahren. Schauen Sie in ihre elektronische Müllkiste im Keller: Kabel, Adapter, Stecker – und Geräte, die sich immer mehr ähneln. Version 9.0, 10.0, X machen keinen Unterschied. Im digitalen Innovationsfeld häufen sich Running Gags – Erfindungen, die seit vielen Jahren gehypt werden, sich aber als Flops oder Ladenhüter erweisen. Etwa der berühmte „intelligente Kühlschrank“, der aber auf jeder Haushaltsmesse neben dem digitalen Brotmesser und der vernetzten Waschmaschine präsentiert wird. 

Das private „Smart Home“ erweist sich als mühsame Angelegenheit, das den Bewohner zu seinem eigenen elektronischen Hausmeister macht, der ständig mit unkompatiblen Geräten herumfummeln muss. Wir ahnen allmählich: Ein vollautomatisches Haus würde sich irgendwann auf subtile Weise seiner menschlichen Bewohner entledigen. Was sollen wir noch da? Wir stören ja nur die Sensoren!

In Guy Debords visionärem Text „Die Gesellschaft des Spektakels“, erschienen vor mehr als 50 Jahren, heißt es: „Genau dann, wenn die Masse der Gerätschaften in Richtung Infantilität wandert, wird das Infantile selbst eine Gewohnheit; dies wird verkörpert durch das Gadget.“ (Debord 1967/1996)

6. Messeritis

Die neueste Apple Watch hat eine Funktion, die im digitalen Versprechen schon seit Jahren vakant ist: Leben retten. Sie misst Blutdruck und Puls und alarmiert, wenn die Werte abnormal werden. Sie „fühlt“, wenn wir fallen. Dann fragt sie uns, um Fehlalarme zu vermeiden: „Wollen Sie wirklich einen Alarm auslösen?“

Aber was ist „abnormal“? Wenn wir beim Gedanken an einen geliebten Menschen plötzlich Herzklopfen bekommen – wird dann der Notarzt alarmiert? Kann die Watch Sehnsucht unterscheiden, oder sexuelle Erregung? Und was wäre, wenn sie das könnte? Bekommen wir dann eine Notification über unseren „arousal score“?

Die Funktion erzählt eine wunderbare Geschichte von der Unschärfe des menschlichen Lebens. Was ist, wenn wir fallen, aber nicht mehr „Ja“ drücken können? Oder wenn wir fallen, weil wir uns freudig hingeworfen haben? Oder wenn wir keine Lust mehr zum Aufstehen haben?

Unsere Angst vor dem Datenverlust bei medizinischen Anwendungen verbirgt womöglich eine andere Angst: die vor dem Wissen selbst. Diejenigen, die das Monitoring ihrer medizinischen Werte am Nötigsten haben – Menschen mit multiplen Krankheiten – beziehen ihre Lebensfreude womöglich gerade aus zulassender Ignoranz. Die Gesunden hingegen laufen mit tausend Vergleichsuhren herum, was ihren Fitnessstress nur erhöht. 

Um leben zu können, benötigen wir eine gewisse Nichteindeutigkeit, ein Vertrauen auf das Nichtgemessene, eben Lebendige. Präzision und zu viel Wissen hingegen führen uns immer nur in neue Zwänge, die unser Leben einschränken statt erweitern.

Der berühmte KI-Computer Watson, der jeden Arzt bei der Diagnose übertreffen soll, versagte bei seinen klinischen Probeläufen so gut wie immer. Googles Seuchenprognoseprogramm, das den Verlauf von Grippeepidemien vorhersagen sollte, wurde inzwischen vom Netz genommen – weil Menschen Krankheiten oft imaginieren, weil Fehlinformationen und Hysterien Prognosen verfälschen. Der Körper spricht seine eigene Sprache im imaginären Feld von Körper, Geist und Seele. Im Unklaren, Nichtgemessenen verbirgt sich eigentlich das, was wir als „Gesundheit“ imaginieren oder als „Krankheit“ erleben.

7. Die Rache des Analogen

Der kanadische Journalist David Sax hat ein erhellendes Buch über die blühende Renaissance des Dinglichen geschrieben. In „Die Rache des Analogen“ beschreibt er Comebacks, mit denen wir nicht (mehr) gerechnet hatten: Vinylplatten sind heute die Renner auf dem Musikmarkt (demnächst kommt HD-Vinyl, mit noch besserer Tonqualität). Ur-analoge Medientechniken wie Füllfederhalter und Notizbücher mit rauem Papier boomen. Altmodische Lichtschalter mit Klick sind ein Verkaufsschlager, obwohl jeder sein Licht über das Smartphone steuern kann. Bibliotheken werden heute überall als Prestigeobjekte gebaut. Und plötzlich, nach dem totalen Triumph der Digitalfotografie, gibt es wieder Polaroids!

Alles nur ein trotziger Nostalgiereflex? Nein, die Geschichte geht eben nicht geradeaus ins Digitale, sie krümmt sich immer wieder ins Bewährte. Der wahre Grund ist unsere Sehnsucht nach Signifikanz, die in einer digitalen Umwelt übermächtig wird. Wenn alles unendlich kopier- und verfügbar ist, wird das Einmalige, Spezifische, Anfassbare zum neuen Luxus.

Wir machen heute so viele Fotos in unserem Leben wie noch nie – mit Smartphones. Auf den Festplatten ballen sich Gigabytes von Selfies. Aber diese Zeugen unseres Leben verschwinden einfach im ewigen Dunkel des Nichtgesehenwerdens. Man fotografiert kaum noch, um sich zu erinnern, sondern um sich einzubilden, dagewesen zu sein. Spotify und Netflix sind der Traum jedes Musik- und Film-Freaks. Aber wir alle kennen die „Spotyflix-Fatigue“: Wenn man alle Werke der Welt zur permanenten Verfügung hat, entsteht irgendwann eine innere Leere. Alles ist möglich, nichts mehr wichtig. Es herrscht Knappheit der Kontextualität.

Zudem erweist sich der digitale Raum immer wieder als unsicher und quälend störungsanfällig. Es ist ein Störungsraum, in dem immer neue patches die alten verschlimmern. Ich schließe meine iPads und -Phones inzwischen wieder mit Kabeln an meine Lautsprecher an – Bluetooth sucks. Nichtfunktionierende Ticketausdrucke, verschwundene Kreditkartencodes, Spam, ewige Aufforderungen, etwas für den Computer zu tun – wir alle sind die Billigarbeiter des Netzes. 

Jene Verlässlichkeit, die in der ständigen Ambiguität des digitalen Raums verloren geht, suchen wir irgendwann im konkreten Klicken eines Lichtschalters, oder im Anfassen eines garantiert nicht digitalisierbaren handgebackenen Brotlaibes. Nach dem Digitalen kommt Bio. Bio ist das neue Analog.

8. Der Kategorienfehler

Vielleicht begann der Hype um die „Künstliche Intelligenz“ schon im 19. Jahrhundert. Schon damals nannte man mechanische Puppen wie den schachspielenden Türken „Künstliche Menschen“ oder „Homunculi“. Die ersten Großcomputer in den 1960er-Jahren wurden im Volksmund hartnäckig „Denkmaschinen“ genannt. Illustrationen zeigten Köpfe, in denen das Denken durch Zahnräder, Bolzen und Getriebe dargestellt wurde. Unsere innere Metaphorik verwechselt ständig das Menschliche mit dem Maschinellen. Es gibt in der menschlichen Seele einen hartnäckigen Hang zum Anthropomorphing, zur Projektion menschlicher Gefühle auf Maschinen.

Wir streicheln den niedlichen Rasenroboter und geben ihm Kosenamen oder lassen uns von nervenden Begrüßungsrobotern die Hand geben, nur weil sie Kulleraugen haben. Wir reagieren auf die Black Box des Digitalen – man weiß nie, was drinnen passiert – mit dem Kindchenreflex. Das führt zur Verwechselung von Metapher und Prophezeiung. Wir glauben an das Raunen, das uns den Roboter als zukünftigen Herrscher der Welt verkauft. So gehen wir einer infantilen Märchen-Story auf den Leim, die uns abwechselnd als große Dystopie oder gloriose Erlösung verkauft wird. 

Schon wenn man den Begriff „Künstliche Intelligenz“ ausspricht, landet man mitten in dem, was Niklas Luhmann einen Kategorienfehler nannte – als Beispiel brachte Luhmann einen Bauern, der unbedingt Pellkartoffeln anbauen möchte. Wenn wir die Formulierung „Künstliche Intelligenz“ hören, verwechseln wir Intelligenz – das Lösen logischer Prozesse – mit Bewusstsein. Intelligenz kann effektiviert werden, Bewusstsein ist immer langsam, umständlich, emotional. Es basiert auf Erleben und Erfahren. Deshalb führt jede KI-Debatte immer wieder in die Gruselecke, in der irgendwann Arnold Schwarzenegger als „hyperintelligente Menschmaschine“ aus der Zukunft hervorbricht. 

Der KI-Mythos ist ein typisches Beispiel für einen Zukunftsirrtum, bei dem wir unbewusste Metaphern für echte Prophezeiungen halten. Nicht umsonst heißt der Weltbestseller von Yuval Noah Harari „Homo Deus“. Was drinsteht, ist nicht so ganz klar – nur dass wir irgendwie zu Göttern werden, und dass das schrecklich und hervorragend zugleich ist.

Im KI-Mythos unterstellen wir Computern die Macht, Probleme zu lösen, die unlösbar erscheinen: KI regelt demnächst unsere Verkehrsströme in den überfüllten Städten, sodass keine Staus und keine Unfälle mehr passieren. Wirklich? Studien zeigen, dass automatisch fahrende Autos eher noch mehr Verkehr auf die Straße bringen können (vgl. Doll 2018). Laut Mark Zuckerberg könne KI in einer Generation alle Krankheiten heilen, vermeiden und managen. Womöglich löst KI sogar die Krise der Demokratie. Und das ewige Dilemma der Partnerwahl wird durch KI im Sinne des „richtigen Matches“ erledigt. 

Etwas in uns sehnt sich wohl nach dieser Selbstaufgabe, in der wir alles Schwierige, Menschliche, auf Maschinen übertragen können. Zudem benötigt die Computerindustrie nach 20 Jahren dringend eine „next big story“ – KI ist das Kaninchen, das eine Branche am Rande der Erschöpfung aus dem Hut zieht.

Längst ist das Wort von der „Schwarmintelligenz“ wieder aus der öffentlichen Sprache verschwunden. Es handelt sich, wie wir gesehen haben, meistens um Schwarmdummheit. Ebenso könnte es der heroisch aufgeladenen Metapher der KI ergehen.

9. Die nächste Welle

Hat also das Internet, das Digitale, unser Leben verbessert? Das Netz hat jenseits seiner unbestreitbaren Verbindungsvorteile jede Menge Verunsicherungen in unser Leben gebracht – einen Drift des Lebens ins Unsichere, Bedrohliche, Hysterische. Das heutige Netz ist ein „schiefer“ Marktplatz menschlicher Kommunikationen, auf dem unsere negativsten Eigenschaften getriggert werden. Das anzunehmen und auszusprechen, ist der erste Schritt der digitalen Revision, die jetzt vor uns liegt.   

Viele folgen inzwischen der zynischen Annahme, gegen die Übermacht der Digitalisierung sei ohnehin kein Kraut gewachsen. Dieser Digitalfatalismus ist das Gegenstück zum Digitalfanatismus. Digitaler Realismus hingegen versteht, dass sich die menschlichen und technischen Systeme in einer immerwährenden Co-Evolution befinden. Jede neue Technologie, jedes neue Medium, erzeugt zu Beginn einen Deutungs- und Sinnüberschuss (vgl. Baecker 2018). Das Buch, das Radio, das Fernsehen – all das brachte zunächst neue Exzesse des Gesellschaftlichen mit sich. Technologie verändert den Menschen. 

Aber gerade das Beispiel Internet zeigt, wie das Menschliche auch ein Medium überformen kann. All das, was wir heute im Netz verstärkt erleben – Hass, Gier, Negativität, Oberflächlichkeit – ist ja Ausdruck genuin menschlicher Gefühle. Das Netz kann nicht „objektiv“ sein. In der heutigen Krise des Netzes zeigt sich in Wahrheit die Stärke der menschlichen Kondition im Verhältnis zur Technik. 

Irgendwann schlossen die Saloons im Wilden Westen, in denen das Gesetz des größten Gewehrs galt, und ein komplexeres gesellschaftliches Regelsystem gewann die Oberhand. Zukunft entsteht aus Selbstregulationen, die erst ein Scheitern benötigen, um sich durchsetzen zu können.

Die Ära der Postdigitalität

Postdigitalität heißt nicht das Ende digitaler Nutzungen, sondern das Ende des Totalitätsanspruchs der Digitalität. Digitale Systeme können vieles leisten – Mobilitätskonzepte in entsiedelten Regionen, die Berechnung gesunder Lebenszeit für neue Versicherungskonzepte, die optimierte Steuerung von existierenden Verkehrsströmen. Aber kein noch so „schlaues“ KI-System wird die Überfüllung von Städten mit Autos „lösen“ können. Das erfordert Entscheidungen menschlicher Art – Entscheidungen, die mit Werten und Prioritäten jenseits von Optimierung zu tun haben.  

Postdigitalität heißt, dass wir uns vom Mythos der bedingungslosen Disruption verabschieden. Es gilt, in Zukunft wieder zwischen „besser“ und „richtig“ differenzieren zu lernen – zwischen Innovationismus und echtem Fortschritt. Die Propaganda des Digitalismus handelt ja davon, dass „unser aller Leben ständig verbessert werden muss“. Wirklich? Wenn in jeder Küche ein Kochroboter steht, macht das sinnliche Kochen keinen Spaß mehr. Wenn alle Daten öffentlich sind, verlieren wir als Individuen unsere Würde. Wenn wir in vollautomatischen Häusern leben, die sich perfekt selbst steuern, verlieren wir lebenswichtige Bezüge zur Welt. 

Postdigitalität heißt also: kluge Allokation des Digitalen. Vor allem das Ökologische und Nachhaltige, das Poetische und Artistische bieten sich hier an. Big Data kann helfen, wenn es um standardisierbare Prozesse der Diagnose von Krankheiten geht. Big Data mag ein goldener Pfad in der molekularen Krebsforschung sein. Aber nichts ersetzt einen einfühlsamen Arzt. Weil Heilung immer auf menschlicher Beziehung beruht: Wer aus der sozialen Welt herausfällt, wird nicht mehr gesund. In der Bildung wirkt Digitalisierung meistens negativ, weil die Rolle des „lernenden Lehrers“ unabdingbar ist. Pflegeroboter sind eine grausame Fantasie, weil wir gerade dann, wenn wir schwach sind, menschliche Gegenwart brauchen. Sexroboter sind eine schreckliche Absage an die Erotik, die nicht dadurch besser wird, dass wir fasziniert darauf starren.

Postdigitalität bedeutet das Erlernen neuer Kultur und Soziotechniken. In dieser digitalen Emanzipation geht es um Selbstwirksamkeit und Medienkompetenz. Das meint digitale Achtsamkeit oder OMline: verbunden, aber nicht gefangen zu sein, vernetzt, aber nicht permanent verstrickt, Fake News als Aggression zu verstehen und ihnen eigene Realitätskonstruktionen entgegenzusetzen. Das fängt an bei der Fähigkeit, sein Smartphone auszuschalten. Das Netz zwingt uns auf eine höhere Ebene geistig-mentaler Integration. Es ist der Reiz, der uns zu höherem Bewusstsein zwingt. 

Postdigitalität heißt zu verstehen, dass der digitale Effizienzwahn in eine Sackgasse führt. Viele Unternehmen nutzen Digitalismus als Ersatzdroge für echte Sinnfragen. Man träumt davon, eine ökonomische Kampfmaschine zu werden. Man hält sich Kunden vom Leib, indem man alle Funktionen automatisiert. Solche Firmen verlieren ihre Seele und zerstören sich selbst. Jedes Unternehmen ist letztlich ein komplexer Organismus. Nach den Entropiegesetzen kann Komplexität nur existieren, wenn Effizienz durch Effektivität ausbalanciert wird – durch lebendige Beziehungen. 

Postdigitalität bedeutet: eine aktive Rolle des Menschlichen im technologischen Entwicklungsprozess. Dazu gehört ein neuer Begriff von „smart“, der die humane Dimension konsequent in den Designprozess von Hardware und Algorithmen integriert. Steve Jobs trat einst mit dem Versprechen an, menschengerechte Computer zu bauen – und nicht computergerechte Menschen zu erzwingen. Algorithmen sind nicht unschuldig, und KI ist nur künstliche Dummheit, wenn sie nicht im Sinne der richtigen Fragen (statt der falschen Antworten) entwickelt wird. 

Um das Digitale zu erlösen, müssen wir es lieben. Das Internet ist wie ein Spiegel, in dem wir uns selbst erkennen können – und müssen. Genau das wollen heute die Pioniere der neuen digitalen Emanzipation. Postdigitalität handelt vom humanen Nettogewinn, der entsteht, wenn wir das Informelle wieder klug mit dem Kognitiven, das Kommunikative mit dem Reflektiven, das Systemische mit dem Sinnlichen verbinden. Hier hat Yuval Noah Harari recht: Der beste Schutz vor unserer Entmündigung durch Algorithmen (die uns besser kennen als wir uns selbst) besteht darin, uns selbst besser zu verstehen als jeder Algorithmus. 

Ein Auszug aus dem Zukunftsreport 2019.

Literatur:
Baecker, Dirk: 4.0 oder die Lücke, die der Rechner lässt. Leipzig 2018
Debord, Guy: Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin 1967/1996
Doll, Nikolaus: Das Märchen von staufreien Innenstädten. In: welt.de, 28.6.2018
Google Developers: Keynote (Google I/O '18). In: youtube.com, 8.5.2018
Harari, Yuval Noah: Homo Deus. Ein Geschichte von Morgen. München 2015
Hari, Johan: Lost Connections. Uncovering the Real Causes of Depression – And the Unexpected Solutions. London 2018
Lehofer, Michael: Mit mir sein: Selbstliebe als Basis für Begegnung und Beziehung. Wien 2017
Lobo, Sascha: Die Vertrollung der Konservativen. In: spiegel.de, 19.9.2018
Mansholt, Malte: Dating-Hilfe von Alexa? Das fragen die Leute Amazon Echo wirklich. In: stern.de, 5.7.2018