Hyperobjects: Eine neue Dimension des Zukunftsdenkens
Die Metapher der Maschine
Stellen Sie sich einen Gletscher vor, der schmilzt. Selbst wenn Sie die letzten 30 Jahre jeden Tag auf dem Gletscher verbracht hätten: Sie könnten zwar das Verschwinden der Schneemassen erkennen, nicht aber den gesamten Kontext – den Beginn der Industrialisierung, das enorme Bevölkerungswachstum, die gigantische Zunahme des Verkehrs, den Verbrauch fossiler Brennstoffe, die minimierte Artenvielfalt von Tieren, die fehlende Aufmerksamkeit der Menschen für den Gletscher. Für das Verschwinden der Gletscher sind aber all diese Elemente – und noch viele mehr – mitverantwortlich. Es handelt sich um eine komplexe Verkettung von Wirkungsweisen: Wie eine gigantische, produktive Maschine bringt die globale Erwärmung den Gletscher zum Schmelzen.
Die radikalen Vordenker Gilles Deleuze und Félix Guattari haben den Begriff der Maschine verwendet, um produktive Prozesse zu beschreiben, inklusive aller dazu beitragenden Umstände und Elemente. So gehörte zum Bau der Pyramiden von Gizeh auch das Wasser des Nils, die Steigbügel der Pferde, der Papyrus der Pläne oder die Kleider, die die Arbeiter schützten. Nach Deleuze und Guattari sind „Maschinen“ Prozesse und Wirkzusammenhänge, die jeweils eine spezifische und nachhaltige Form der Produktivität und des Outputs – des Produkts – erreichen, so wie die Pyramiden. Auch die Erderwärmung lässt sich als eine effektive Maschine betrachten, deren Spuren man an der Gletscherschmelze erkennt.
Vom Prozess zum Hyperobject
Sich diese Entwicklungen als „Maschinen“ vorzustellen, ist nicht einfach. Um das zu tun, müssen wir unsere normale Denkwelt verlassen und unsere Imagination strapazieren. Ein Versuch: Stellen Sie sich den Moment vor, in dem der erste Gedanke für eine Pyramide entstand, durch einen Pharao, seinen Architekten oder Wesir. Und nun stellen Sie sich die fertigen Pyramiden vor: Nehmen Sie die beiden Enden und halten sie fest. Zoomen Sie räumlich weit genug heraus, um sich alles, was dazwischen stattfand, gleichzeitig darzustellen – jeder kleinste Schritt, das Wasser des Nils, die Steigbügel, der Papyrus. Alles was jemals geschah, um diese Pyramiden zu bauen. Und das gleichzeitig. Nun lässt sich der Prozess als Spuren eingefrorener Bewegungen wahrnehmen – als Objekt, das alle beteiligten Menschen durchdringt, absorbiert und zu einem Teil davon macht. Wir sind gewissermaßen der Bau der Pyramiden, wir beobachten ihn nicht nur. Ungefähr so, wie Sie mit Ihrem Auto nicht nur im Stau stehen, sondern der Stau sind. Wenn wir Zeit und Raum derart verschieben, dass wir die Verbindungen in konzentrierten Prozessen als ein Objekt wahrnehmen können, erkennen wir die massiven Auswirkungen dieser Vorgänge. Diese ungewohnte Betrachtung nennt der englische Philosoph Timothy Morton „Hyperobjects“: Phänomene, die uns auf eine unheimliche Art vertraut und fremd zugleich sind. So wie die Erderwärmung: Wir sind ein Teil von ihr, und dennoch ist sie uns fremd und fern.
Warum die Zukunft in Objekten denken?
Hyperobjects haben eine dramatische Eigenschaft: Dort, wo sie entstehen, ist der Wandel schon geschehen, bevor er vollzogen ist. Nehmen wir das Beispiel der Erderwärmung: Als Menschen können wir nur die Auswirkungen wahrnehmen und messen – den Schnee zur falschen Zeit, das Schmelzen der Gletscher, die höheren Wasserpegel, den Weinbau im hohen Norden. Irgendwann haben wir gelernt, diese Signale zusammenzudenken, und verstanden: Die Welt wird wärmer, und wahrscheinlich haben wir damit zu tun. Aber wirklich ändern können wir es nicht mehr. Wir können Entwicklungen einleiten, die die Erwärmung verzögern. Wir können uns darauf vorbereiten, in einem anderen Klima zu leben. Aber was wir auch immer tun: Schnell, radikal oder effizient wird nichts davon sein.
Die Erderwärmung ist laut Morton das größte Hyperobject unserer Zeit. Es durchdringt uns, verändert uns, hat uns im Griff, ohne dass wir es je als Ganzes zu fassen bekommen. Und ohne dass wir es je für immer und radikal verändern könnten.
Hyperobjects sind also effizient und produktiv wie gigantische, ferngesteuerte Maschinen. Sie haben sich festgezurrt auf diesem Planeten und in unserem Leben. Sobald sie sich zu etablieren begonnen haben, sind sie nicht mehr zu verhindern. Diese Eigenschaft verbindet sie mit den Megatrends. Doch im Gegensatz zu Megatrends sind Hyperobjects weniger Prozesse als Entitäten. Wir können sie nur akzeptieren und schauen, wie wir mit ihnen klar kommen.
Hyperobjects helfen, die Zukunft zu lesen
Wie diese Dimension des Denkens helfen kann, menschliches Handeln zu verändern, zeigt das Beispiel Künstliche Intelligenz (KI). Im Sinne der Hyperobjects lässt sich auch KI als eigenständiges Objekt betrachten: Die Summe aller KIs dieser Welt – von Siri bis zur automatischen Fabrik, vom selbstfahrenden Fahrzeug bis zum KI-erzeugten Wetterbericht – wird uns im Alltag, im Großen wie im Kleinen, so prägen, dass wir nicht mehr ohne Algorithmen auskommen werden.
Das spezifisch „Produktive“ der KI ist ihre Invasivität: Sie dringt in unsere Lebenswelten ein und verwandelt sie, Schritt für Schritt, von der Arbeit in der Fabrik bis zum Autofahren, vom Umgang mit Daten bis zur Rechtsberatung. Dabei ist es wichtig, nicht die einzelne Software zu mystifizieren: Nicht Alexa wird die Welt verwandeln, sondern alle KIs gemeinsam. Das Hyperobject KI, das daraus entsteht, ist schon längst geboren: KI-Systeme verteilen sich unaufhaltsam in Raum und Zeit. Als Hyperobject ist KI determiniert, ihre Produktivität am Fortschritt des Eindringens in die menschliche Welt zu bemessen.
Diese Beobachtungsweise kann helfen, die Welt mit neuen Augen zu sehen: Welches Bewusstsein brauchen wir beispielsweise, wenn wir dem Hyperobject KI begegnen? Welchen Wandel in den Bedürfnissen der Gesellschaft erzwingt das Hyperobject der Erderwärmung? Die Vorstellung von Hyperobjects kann uns helfen, die Welt besser zu verstehen – in Zusammenhängen und aus der Perspektive der Ökosysteme.
Image Credits: Cassie Matias | Unsplash