Die Zukunft ist ein Garten
Das tiefe Bedürfnis nach Naturerfahrung der weiter wachsenden Stadtbevölkerung bringt immer mehr Menschen in neuen Gemeinschafts- und Nachbarschaftsgärten zusammen, um ihre Umgebung zu gestalten und ökologische Nahrungsmittel anzubauen. Die urbanen Umgebungen, einst klassisches Gegenmodell zum agrarischen Land, werden so zunehmend als Orte markiert, in die eine neu verstandene Natur in Form von Gärtnern, Pflegen und Ernten zurückgeholt werden soll – und zwar durchaus individuell.
„Grüne Anlagen“ sind dabei klar im Trend. Aber nicht nur im übertragenen Sinne des nachhaltigen Investments, sondern ganz handfest in Form von Gärten, Balkonen und Terrassen sind sie – trotz oder gerade wegen der derzeitigen Wirtschaftslage – äußerst gefragt. Die Zahl derer, die über eine Terrasse oder einen Garten verfügen, stieg zwischen 2007 und Der urbane Garten-Hipster greift gern zur feuerverzinkten und pulverbeschichtete Kanne mit extralanger „Longreach-Tülle“ 2011 von rund 50 Mio. auf mehr als 55 Mio. an (Ifak Institut 2011). Auch die „Gated Communitys“ namens Schrebergarten, lange Inbegriff der Spießigkeit, werden aufgemischt. Laut dem Bundesverband Deutscher Gartenfreunde sinkt das Durchschnittsalter der Pächter in Kleingartenanlagen in den vergangenen Jahren deutlich. Inzwischen gibt es vielfach lange Wartelisten für die Parzellen, die vor allem bei jungen Familien mit Kindern auf wachsende Begeisterung stoßen.
Selbstversorgung 2.0
Auch der heimische Anbau von Obst, Kräutern und Gemüse wird im städtischen Raum immer beliebter. Im Global Garden Report 2010 von Gardena wurden unter anderem fast 1,5 Mio. Blogbeiträge aus 13 verschiedenen Ländern analysiert. Weltweit, aber vor allem in den 118.000 untersuchten deutschsprachigen Beiträgen, kristallisierten sich Küchen- und Biogärten als beliebtestes und heiß diskutiertes Thema heraus. Neben dem Wunsch nach Transparenz spielen hier auch ökonomische und ökologische Gründe eine Rolle.
- Das Portal Anbeeten liefert online Hilfe bei der Planung und Pflanzfolge auf dem ersten eigenen Beet.
- Optimal auch für den platzsparenden Anbau von Nutzpflanzen geeignet sind die handgemachten Whirligro-Pflanzschläuche. Bis zu 30 Pflanzen wachsen darin, vor Fressfeinden geschützt, auf einer 1m2 großen Fläche, die sich falls nötig auch leicht abbauen lässt. Möglich wird dies durch den Anbau in einem doppelhelix-artigen Schlauch, der um einen zentralen Pfosten herum angebracht ist.
- Auf Serienfertigung wartet hingegen noch das wunderschöne mobile Werkzeugkomplettset für städtische Bauern, das die beiden Designer Olli Hirvonen und Mirko Ihrig samt Tragerucksack konzipiert haben.
Urban Gardening: Zukunft der Branche
Insgesamt bedient die etablierte Gartenbranche die neue Zielgruppe eher langsam, was diese mit Hilfe zur Selbsthilfe beantwortet. Zahllose Blogs und Foren vermitteln Erfahrungen sowie DIY-(An-)Bauanleitungen für Anfänger (z.B. topfgartenwelt.blogspot.de) und Fortgeschrittene (z.B. www.windowfarms.org/buildyourown). Zudem stößt eine Vielzahl kleiner Produzenten und Onlinehändler mit Produkten aus der ganzen Welt in diese Lücke. Schaut man sich deren Angebot an, so wird deutlich, dass der typische Balkongärtner offensichtlich äußerst designaffin ist und die allgegenwärtige Baumarkt-Tristesse mehr als satt hat.
Statt Blumenkästen im klassischen „Bauhaus-Stil“ findet man dort vor allem neuartige Konzepte, wie etwa „Blumenbrücken“, die ohne Befestigungsmittel einfach über das Geländer „gestülpt“ werden (www.bloempotwebshop.nl www.elho.com). Auch die schnöde Gießkanne hat ausgedient – stattdessen gibt es nun beispielsweise die formschönen Spray-und Gießhybriden namens Sprayman. Für den urbanen Garten-Hipster darf es durchaus auch eine zu seinem Fixie (Retro Ein-Gang-Rad) passende, feuerverzinkte und pulverbeschichtete Kanne mit extralanger „Longreach-Tülle“ aus dem traditionsreichen Hause Haws sein. Deren speziell für den Einhandgebrauch austarierte Gewichtsverteilung wurde bereits 1886 vom Gründer der Gießkannendynastie zum Patent angemeldet und findet inzwischen auch unter „Hobby-Profigärtnern“ neue Freunde. Mit dem Aquamix von Birchmeier werden Bewässerung und Flüssigdüngung gleich in einem Schritt erledigt.
Aber eigentlich hat der multimobile und zeitgeplagte städtische Naturliebhaber in der Rushhour des Lebens ohnehin keine Lust, sich dem alltäglichen Gießregime zu unterwerfen: Abhilfe schaffen z.B. Aquasticks, die dank innovativer Kapillarbewässerung durch speziell gefertigte Keramik zur Not auch mehrere Wochen lang die adäquate H2O-Versorgung sicherstellen. Und wer keine eigene Anbaufläche zur Verfügung hat, besorgt sie sich im Sinne des Guerilla Gardening immer öfter einfach selbst: Offizielle Statistiken gibt es keine, aber alleine in Nürnberg wurden zuletzt zum Beispiel über 800 Baumscheibengärtner gezählt, die den begrenzten Bereich rund um die innerstädtischen Straßenbäume vor ihrer Haustüre bepflanzen.
Das Appartement als vertikales Biotop
Obwohl das Interesse am urbanen Gärtnern bereits groß ist, will der Umgang – auch mit der gezähmten Natur – erst einmal gelernt sein. Während der geschulte Pflanzenkundler im städtischen Balkon nichts weiter als einen „ganz normalen Extremstandort“ sieht, zeigt sich dem Einsteiger ein komplexes Geflecht aus theoretischem Hintergrundwissen zu Gefäßen, Substraten, Düngern und möglichen Sonnenständen. Rund um die besondere Bedürfnislage urbaner Gärtner und die speziellen Bedingungen ihres Anbaugebietes Nach dem Ende des LOHAS-Hypes muss das ökologische Bewusstsein sich neue Wege in die Alltagspraxis suchen bildet sich derzeit ein ganz neuer Markt aus. Der Botanische Garten der Universität Wien beispielsweise veranstaltet inzwischen Seminare zu den Grundlagen des Balkongärtnerns, bei dem auch die Praxis des fachmännischen und -frauischen Bestäubens, Pikierens und Pflanzens nicht zu kurz kommt.
Der Platzmangel auf Balkonen und Terrassen macht zudem vor allem eine möglichst hohe Ausnutzung des euklidischen Raumes notwendig. Die Zukunft des urbanen Gartens ist darum vertikal:
- Versetzt angeordnete, kleeblattförmige Gefäße werden zu sogenannten „Pflanzetageren“ bis in schwindelnde Höhen aufeinandergestapelt.
- Der „Minigarden“ ist ein vertikales Pflanzsystem für den Innen- und Außenraum, mit dem man ganze Wände oder etwa die komplette Balkonbrüstung begrünen kann.
- Der sogenannte Skyplanter nutzt den freien Raum unter dem Nachbarbalkon oder der Zimmerdecke und lässt Pflanzen in einer Art umgedrehtem Blumentopf von der Deck herab nach unten wachsen.
Für alle, die bislang kein Stück Grün ihr Eigen nennen können, hat die Webcommunity Mundraub eine Lösung gefunden: Über das Portal werden mehrere Tausend öffentlich zugängliche Fundstellen für Beeren, Kräuter, Nüsse und Obst im Crowdsourcing-Verfahren zugänglich gemacht.
Der Megatrend Neo-Ökologie befindet sich jetzt in einer kritischen Phase. Nachdem Greenwashing „Bio“ als Marketing-Feigenblatt unglaubwürdig gemacht hat und die LOHAS in der öffentlichen Wahrnehmung an Sympathie verlieren, muss das ökologische Bewusstsein sich neue Wege in die Alltagspraxis suchen. Der Mainstream praktiziert die Doppelmoral und fährt in benzinfressenden SUVs zum Bio-Supermarkt. Die klassischen LOHAS suchen bei traditionellen Institutionen wie dem Verbraucherschutz nach Orientierungshilfe im allgemeinen Chaos der Biosiegel und Energiespartipps. Eine kleine rebellische Elite zelebriert einen demonstrativ ungesunden und ökologisch unkorrekten Lebensstil: die NOHAS. Und nachdem die Flucht in die Einsiedlerhütte im Wald in der Wahrnehmung zur unrealistischen Hippie-Fantasie geworden ist, scheint die Möglichkeit, innerhalb der zivilisierten, urbanen Gesellschaft selbsterhaltende Mini-Rohstoffkreisläufe zu etablieren, realistisch am meisten Erfolg zu versprechen. Der Gemüsegarten auf dem Balkon ist nur ein kleiner Schritt in Richtung ökologische Autonomie, dafür aber ein Schritt mit einem sehr hohen Glückspotenzial.
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