Real Omnivore: Der Esstyp der Zukunft
Der „klassische“ Omnivore, der heute in unserer mittel- und nordeuropäischen Esskultur noch den Mainstream repräsentiert (hoher Fleischkonsum inbegriffen), gerät im Diskurs um „richtige“ Ernährung, die sowohl der persönlichen als auch der „Gesundheit“ des Planeten zuträglich ist, immer mehr in Argumentationsnotstand. Und auch wenn sich die älteren Generationen (50+) davon (noch) nicht wirklich beeindrucken lassen, bei den jüngeren Generationen Y und Z, und hier vor allem bei Frauen, spielen – neben tierethischen – vor allem klimarelevante Überlegungen bei der Wahl ihres Essens eine immer größere Rolle.
Die demografische Entwicklung, die Megatrends Gesundheit, Neo-Ökologie und Gender Shift sind die entscheidenden Kräfte, die den Wandel unserer Esskultur, in der künftig neue Esstypen den Ton angeben, weiter vorantreiben werden: Nicht nur Vegetarierinnen, Veganer und Flexitarierinnen, sondern auch die neuen „wirklichen Omnivoren“.
Genuss und Verantwortung: Das Mindset der Real Omnivores
Die Real Omnivores sind technikaffin und gegenüber neuen Entwicklungen im Food-Bereich, vor allem auch was Food-Tech angeht, wesentlich aufgeschlossener als die anderen Esstypen. Sie suchen nach weiteren Möglichkeiten für eine ausgewogene, nachhaltige Ernährungsweise, die sich nicht nur durch das Weglassen als problematisch wahrgenommener Lebensmittel auszeichnet.
Real Omnivores decken ihren ernährungsphysiologischen Bedarf – verkürzt oft als Proteinbedarf bezeichnet – in Zukunft auch durch den Genuss von Produkten aus Algen, Mykoproteinen und Insekten, ernähren sich überwiegend von pflanzlichen Lebensmitteln, essen (wenn sie Fleisch konsumieren), nicht nur die „edlen“ Teile und zählen zu den Early Adoptern, wenn es um In-Vitro-Fleisch und Fisch aus Zellkulturen geht. Kurz: Sie werden zu den Esstypen, die Genuss mit Verantwortung verbinden ohne sich retrograd nur an einer zur Idylle stilisierten Vergangenheit zu orientieren oder sich einem radikalen Verzichtsregime unterzuordnen.
Kein Verzicht, sondern mehr Möglichkeiten
Stattdessen wird es in Zukunft darauf ankommen, eine noch größere Vielfalt alter und völlig neuer Nahrungsmittelquellen zu nutzen. Die Konsumierenden werden im Zuge der neuen Konnektivität und aufgrund immer ausdifferenzierterer E-Food-Angebote diese Auswahloptionen und damit ihre neue Macht immer mehr nutzen.
Die Esserinnen und Esser der Zukunft werden sich nicht vegan ernähren, sondern auf zahlreiche unterschiedliche Nahrungs- und Nährstoffquellen zurückgreifen und durch diese Vielfalt eine ethisch und sozial gerechte, gesunde, ökologische und nachhaltige Ernährung verfolgen: Sie werden Obst, Gemüse, Getreide und Hülsenfrüchte essen, Pilze, Algen und Kräuter, Plant Based Food und das „gute“, das „wilde“ und das „ganze“ Tier essen, sowie Produkte aus Insekten oder aus Nährstoffen, die durch Fermentation aus Mikroorganismen gewonnen werden.
Das klingt nach einem Speiseplan, der noch vor wenigen Jahren vielen völlig exotisch erschienen ist oder im Reich der Science-Fiction verortet wurde. Tatsächlich machen es die Fortschritte etwa bei Cultured Meat und Cultured Fish möglich. Restaurants und Start-ups stehen bereits in den Startlöchern. Es geht aus nachhaltigen, klimaschonenden Überlegungen aber nicht nur um Alternativen zu Fleisch, sondern auch um einen Wandel der aktuellen Fleischproduktion. Wenn Real Omnivores Fleisch essen, muss es einerseits von hoher Qualität sein, andererseits spielt die Verwertung des gesamten Tieres nach dem Nose-to-Tail-Prinzip eine gewichtige Rolle. So feiern etwa Innereien ein Comeback auf den Tellern.
Insekten, Algen und Co. als neue Nahrungsquellen
Auch im Hinblick auf den Verzehr von Insekten ist Bewegung in die Akzeptanz der Menschen gekommen. Der stets gegen Insekten ins Treffen geführte „Ekelfaktor“ spielt beim Großteil der neuen, mit Insektenbestandteilen hergestellten Lebensmittel in Zukunft kaum eine Rolle, weil es überwiegend „Invisible Insects“ sind, die auf dem Markt reüssieren werden: Protein-Riegel, Burger-Patties, Sugi, Teigwaren und ähnliche Produkte, in denen Insekten in Mehlform verarbeitet werden, also unsichtbar sind. In puncto Nachhaltigkeit, Qualität der Proteine und bei spezifischen Nährwerten werden Produkte aus Insekten aber all jene überzeugen, denen die doppelte Gesundheit (die eigene und die planetare) am Herzen liegt.
Neben Insekten stehen zudem Algen, Quallen, Flechten und Pilze im Fokus vieler Wissenschaftlerinnen, die sich der Erforschung neuer oder wenig genutzter Lebensmittelquellen widmen. Weitere technische Fortschritte ermöglichen es zudem, Plant-Based-Produkte nicht nur geschmacklich zu verbessern, sondern auch die Rezepturen und die Zusammensetzung der Nährstoffe zu optimieren, die bei der ersten Generation pflanzlicher Fleischersatzprodukte noch viel Kritik ernteten.
Wie in vielen anderen Bereichen hat die Covid-19-Pandemie auch einen neuen Fokus auf unser globales Nahrungsmittelsystem gelegt und den Aufstieg von Food-Tech-Unternehmen eingeläutet, die es sich zum Ziel gesetzt haben, die Klimakrise mit der (Weiter-)Entwicklung von Lebensmitteln zu lösen, die abseits der industriellen Landwirtschaft und Viehzucht regional und auch in urbanen Indoor-Farmen produziert werden.
Die Esskultur der Zukunft wird also an einer viel größeren Vielfalt an Nahrungsmitteln ausgerichtet sein, die weit über die Standards unserer heutigen Ernährung und das Vorstellungsvermögen vieler Konsumenten hinausgeht. Den Real Omnivores aber wird sie eine viel flexiblere Ernährungsweise ermöglichen als den heute fast schon zum Mainstream gehörenden Flexitariern.
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