OMline: Digital erleuchtet
Die Zeiten, in denen das Internet als Wahrheits-, Demokratie- und Wissensmedium gefeiert wurde, sind längst vorbei. Die unkritische Euphorie der Nuller-Jahre ist im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts einer großen Ernüchterung gewichen. Die Gründe sind so vielfältig wie offensichtlich: Der NSA-Skandal hat die Angst vor digitaler Überwachung geschürt; Cyber-Mobbing und Shitstorms verwandeln soziale Medien in digitale Pranger; digitale Filterblasen und Fake News verfälschen unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit und entfalten “postfaktische” Potenziale. Immer mehr Menschen erscheint das Netz heute wie eine große Black Box, in der Narzissmen und Diffamierungen, Empörung und Populismus gedeihen.
Zugleich sorgt die fortschreitende Vernetzung unserer Lebens- und Arbeitswelten dafür, dass wir weniger denn je auf die Nutzung digitaler Medien und Geräte verzichten können. Gerade soziale Netzwerke, die uns auf dem Smartphone immer und überall begleiten, üben dabei echte Suchteffekte aus. Laut dem Soziologen Hartmut Rosa adressieren sie unmittelbar unser emotionales Grundbedürfnis nach Resonanz, nach einer wirkmächtigen Beziehung zur Welt: Wir sehnen uns nach digitalen Signalen und technologisch erzeugten Reizen. Der ständige Blick aufs Smartphone ist längst zur Routine geworden. WhatsApp, Facebook, Instagram & Co. buhlen um unsere permanente Aufmerksamkeit.
So hat sich das Internet zu einer riesigen Resonanzmaschine entwickelt: zu einer Echokammer unserer Wünsche, Träume und Gefühle – die auch jene Ängste und Aggressionen verstärkt, die bislang unbenannt und ungeäußert blieben. Das Resultat ist eine Hysterisierung des öffentlichen Raumes – und eine Überforderung unserer individuellen Lebenswelten.
Die neue Ära der Achtsamkeit
Jeder Trend hat einen Gegentrend. Der wirkmächtigste Megatrend ist heute die Konnektivität – und der vielleicht größte Antitrend-Trend ist die Achtsamkeit oder Mindfulness. Die neue Achtsamkeit in digitalen Zeiten erwächst aus dem kollektiven Gefühl, dass wir im Netz Gefahr laufen, uns von uns selbst zu entfremden.
Tatsächlich befreien sich immer mehr Menschen aus der Überforderung des Medial-Digitalen: Sie schalten ab, weil sie ihre Leistungsfähigkeit durch ständiges Multitasking gefährdet sehen. In Es geht um real-digitale Resonanzerfahrungen, um ein neues “In-der-Welt-Sein” den USA sind Anleitungen zum Netz-Entzug wie „Digital Diet“ oder „Unplug“ Millionenbestseller. In „Digital Detox“-Camps kann man erfahren, dass ein Leben auch ohne Smartphone möglich ist, Apps wie „Selfcontrol“ limitieren die Online-Zeit bzw. den Zugang zu bestimmten Webseiten, und eine ganze Coaching-Branche hat sich rund um „Digital Rightsizing“ entwickelt.
Die eigentliche Alternative zur digitalen Überforderung – und damit auch die echte digitale Emanzipation – ist aber kein simples „Dagegen“, sondern ein neues, achtsames „Dafür“: ein neuer Lebensstil, der die Qualitäten des Netzes mit den Vorteilen des Analogen verbindet: OMline.
Von „always on“ zu „always OM“
Der OMline-Lebensstil ist die direkte lebenspraktische Übersetzung einer digitalen Achtsamkeit, hergeleitet von dem meditativen Urklang „Om“ – jener Silbe, die bei Hindus und Buddhisten als heilig gilt, als transzendenter Ur-Laut des gesamten Universums. Diese Haltung manifestiert sich in einer ausbalancierten Verbindung von „online“ und „Om“ und zielt auf die Wiedereroberung des Hier und Jetzt – bei voller Verbundenheit mit der Welt.
Ein praktisches Beispiel für diese Form von vernetzter Spiritualität bietet die digitale Meditations-Plattform „Headspace“. Der Service will eine Mindfulness fördern, die sich mit der digitalen Welt verbinden lässt, es geht um die Verwaltung und massenhafte Verbreitung von Achtsamkeits-Techniken. In diesem Sinne unterstützt die „Headspace“-App Achtsamkeit in allen Lebenslagen, beim Kochen, Lieben, Schlafen, Arbeiten, inklusive Crashkursen gegen akuten Burnout.
Erleuchtete Digitalisierung
Was bedeutet es wirklich, in einer „digitalisierten“ Welt zu leben? Wer diese Frage formuliert, nimmt bereits eine neue, übergreifende Reflexionsebene ein. Zentral ist dabei die Einsicht, dass „Digitalisierung“ nicht primär mit Technologie zu tun hat, sondern vor allem ein sozialer bzw. ein soziotechnischer Prozess ist, bei dem das Zusammenspiel, die Interaktion von Mensch und Computer im Zentrum steht. Wer dies verinnerlicht, ist auch bereit für einen neuen, emanzipierten und „erwachseneren“ Blick auf den komplexen Prozess der Digitalisierung. Dieses OMline-Mindset ist eng verbunden mit neuen Kompetenzen, die für den Umgang mit digitalen Informationen und Umwelten künftig eine immer wichtigere Rolle spielen werden.
Digital Literacy: Komplexitätskompetenz
Zukunftsweisende digitale Fähigkeiten umfassen weit mehr als eine versierte Nutzung von Software oder smarten Devices. Künftig werden Individuen in digitalen Umfeldern zahlreiche kognitive, emotionale und soziale Kompetenzen erlernen müssen, um Informationen adäquat verarbeiten zu können. Immer wichtiger wird das Erlernen einer ganzheitlich ansetzenden „Digital Literacy“, die Ausbildung eines neuen Cyber-Humanismus.
Dieser Sinn fürs große Ganze spiegelt sich auch in einem holistischen Umgang mit Komplexität – insbesondere jener Komplexität, die aus der explodierenden Verbreitung digitaler Informationen, dem digitalen „Verweisungsüberschuss von Sinn “ (Niklas Luhmann), resultiert. Hierbei kommt ein weiterer Aspekt des OMline-Trends zum Tragen: eine ganzheitliche Perspektive der Gesellschaft und ihrer systemischen Verknüpfungen – und des Menschen, der dabei stets im Zentrum steht. Die „digitale Erleuchtung“ lässt sich deshalb auch beschreiben als Komplexitätskompetenz: die Fähigkeit, Komplexität nicht möglichst effizient zu reduzieren, sondern sie achtsam zu managen.
OMline: Die Tech-Life-Balance der Zukunft
Im 21. Jahrhundert scheint es, als würden die Gegentrends zu den großen Trendentwicklungen und die Synthesen, die sich aus diesem Widerstand ergeben, stärker als die Trends selbst. So führt etwa der Megatrend Globalisierung zu einer verstärkten Sehnsucht nach Heimat und Region – und mündet in den „Metatrend“ Glokalisierung.
Solche Re-Aktionen sind auch die neue Achtsamkeit und das OMline-Mindset: In einer zunehmend hypervernetzten, digital überreizten Welt wollen immer mehr Omline: die bewusste Selbstermächtigung für einen achtsam-souveränen Umgang mit einer vernetzten Realität Menschen ihre eigene mentale Souveränität wiederherstellen. Nicht, indem sie einfach abschalten, sondern indem sie lernen, digitale Medien achtsamer und sinnvoller zu nutzen. Ist „online“ die These und „offline“ die Antithese, so ist OMline die real-digitale Synthese: eine bewusste Selbstermächtigung für einen achtsam-souveränen Umgang mit einer vernetzten Realität.
In einer Welt, in der on- und offline, digital und analog zunehmend verschmelzen, sendet der OMline-Trend eine klare Botschaft aus: Nicht die Technik darf unser Leben bestimmen. Sondern umgekehrt: Der Mensch selbst nimmt das Steuer wieder in die Hand. Das Ziel ist eine selbstbestimmte Vernetzung auf humaner Basis, eine „neugierige Abschottung“ gegenüber dem Internet: eine real-digitale Balance in vollvernetzten Zeiten.